Twitter-Interimschef Jack Dorsey ist in der Telefonkonferenz mit Analysten gestern Abend richtig steil gegangen. Die jüngsten Produkt-Verbesserungen im Kurznachrichtendienst hätten "bislang noch nichts dazu beigetragen, unsere Nutzer-Zahlen zu steigern. Das ist inakzeptabel", grollte Dorsey, der erst vor wenigen Wochen den glücklosen Twitter-Boss Dick Costolo ablöste.
Kurz gesagt, ist es uns weder gelungen, den Leuten nahe zu bringen, warum sie Twitter nutzen sollten, noch haben wir es geschafft, Twitter so einfach zu machen, dass die Leute verstehen, wie sie Twitter nutzen können."
Aber die jüngste Zwischenbilanz ist eben ziemlich ernüchternd. Netto kamen in den abgelaufenen drei Monaten gerade mal zwei Millionen aktive Twitter-User dazu. Das entspricht einem homöopathischen Plus von kaum einem Prozent auf 304 Millionen. Zum Vergleich: Branchenprimus Facebook kommt inzwischen auf 1,4 Milliarden User. WhatsApp schafft inzwischen gut 800 Millionen.
Produkt-Innovationen haben bisher keinen spürbaren Effekt auf unser Nutzerwachstum gehabt."
Analysten quittierten die Entwicklung denn auch mit unverblümter Kritik: "Investoren", maulte etwa Paul Sweeny von Bloomberg Intelligence "verlangen eine deutliche Beschleunigung des Nutzerwachstums. Davon haben wir im zweiten Quartal aber auch überhaupt nichts zu gesehen."
Dabei war die Umsatzentwicklung zuletzt durchaus ordentlich. Insgesamt stiegen die Erlöse von April bis Juni um satte 61 Prozent auf 502,4 Millionen Dollar. Analysten hatten im Vorfeld lediglich 482 Millionen Dollar prognostiziert. Doch unter dem Strich blieb ein satter Verlust von 136,7 Millionen Dollar.
In den nächsten Monaten wird unser organisches Wachstum auf ähnlich niedrigem Niveau liegen, wie im abgelaufenen Quartal."
Um das Nutzerwachstum spürbar anzukurbeln, bastelt das Unternehmen derzeit fieberhaft an einer neuen Marketing-Kampagne, versprach Finanzchef Anthony Noto. Nur: Einen Chief Marketing Officer, der die Kernbotschaften massenkompatibel formulieren und in den richtigen Kanälen platzieren könnte, muss das Unternehmen erst noch finden. Man sei bei der Suche nach geeigneten Kandidaten aber schon sehr weit, versicherte Noto.
Auf Seite 2: Es fehlen neue Produkte, die Geld bringen
Offene Flanke
Doch mit welchen Produkten Twitter demnächst die Massen begeistern will, ist nach wie vor unklar. Zwar arbeitet der Mikroblogging-Dienst unter dem Code-Namen "Project Lightning" an neuen Angeboten wie Live-Kanälen etwa von Events oder der Übertragung von TV-Sendungen, was zusätzliche Werbedollars anlocken soll. Doch in der Vergangenheit waren neue Projekte allzu häufig Rohrkrepierer.
Vereinfacht gesagt, ist unser Produkt zu schwierig zu nutzen."
Twitter-Mitgründer Jack Dorsey, der gerade auch den IPO des Zahlungsdienstleisters Square vorbereitet, gibt sich mittelfristig ohnehin keinen Illusionen mehr hin. "Wir werden voraussichtlich kein bedeutendes nachhaltiges Nutzerwachstum haben, bevor wir den Massenmarkt erreichen", sagte Dorsey. Und Finanzchef Noto packte noch einen drauf: Twitter sei zwar weltweit bekannt. Doch es sei "nicht klar, warum sie Twitter nutzen sollten", sagte der Ex-Investmentbanker mit entwaffnender Offenheit ein.
Auf Seite 3: Einschätzung zur Twitter-Aktie und eine einfache Frage
Einschätzung der Redaktion
Twitter-Interims-CEO Jack Dorsey und sein Finanzchef Anthony Noto haben die Wall Street gestern mit rücksichtsloser Ehrlichkeit überrascht. Dahinter steckt ein einfaches Kalkül. Wenn das Unternehmen nach all den Gewinnwarnungen und unerfüllten Heilsversprechen neuer Produkte seine verloren gegangene Glaubwürdigkeit an der wenigstens ansatzweise zurückgewinnen will, hilft nur knallharte Offenheit. Analysten fanden das gut. "Ich schätze diese Offenheit", sagt etwa Rob Sanderson von MKM Parnters.
Aber an der desaströsen Ausgangslage ändert das nichts. Twitter wächst praktisch überhaupt nicht mehr und schreibt rote Zahlen. Und wie das Unternehmen jemals so viele Werbekunden gewinnen könnte, dass es zum Sprung in die Gewinnzone reicht, ist aktuell völlig offen.
Wer sich mit derlei profanen Überlegungen nicht quälen will, kann es auch mal so versuchen: Würden Sie Daimler kaufen, wenn Konzern-Boss Dieter Zetsche sagte, bis zum nachhaltigen Absatzwachstum werde es noch dauern, und der potenziellen Kundschaft sei leider auch überhaupt nicht klar, warum sie eine E-Klasse kaufen sollte.
Spätestens vor diesem Selbsttest ist unsere Antwort klar. Wir stufen die Aktie runter: Verkaufen.
Zum Autor:
Thomas Schmidtutz ist Chefredakteur von www.boerse-online.de. Der Wirtschaftsjournalist schreibt seit der Jahrtausendwende über die neuesten Trends in der IT-Szene. Außerdem kümmert sich der gebürtige Hesse schwerpunktmäßig um die deutschen Autobauer, Konjunkturthemen - und derzeit besonders intensiv um die Hellas-Krise.