Premierminister David Cameron wies seine Minister an, dass alles seinen gewohnten Gang zu gehen habe. Sein möglicher Nachfolger Boris Johnson zeigte sich gewiss, dass das Land auch künftig Zugang zum EU-Binnenmarkt haben werde. Hinter den Kulissen ging der Machtkampf in der Labour-Partei und bei den Konservativen weiter. Labour-Chef Jeremy Corbin verlor weitere Unterstützer, die ihm eine zu zaghafte Kampagne gegen den Brexit vorwarfen.

Die Unsicherheit über die politischen Weichenstellungen in der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas lastete erneut schwer auf den Börsen. Investoren warfen vor allem Bankaktien aus ihren Depots. Das Pfund Sterling stürzte auf ein neues 31-Jahres-Tief von 1,31 Dollar. Auch der deutsche Aktienindex Dax ließ Federn und fiel um zwei Prozent auf 9360 Zähler.

OSBORNE: REGIERUNG UND BANK OF ENGLAND SIND VORBEREITET



Schatzkanzler Osborne, der für einen Verbleib in der EU geworben hatte, sagte, er rechne weiter mit Marktschwankungen, betonte aber: "Unsere Wirtschaft ist so stark wie nötig, um sich der Herausforderung zu stellen, die auf unser Land jetzt zukommt." Die Regierung und die Zentralbank hätten Maßnahmen vorbereitet. Vor dem Referendum hatte er gesagt, bei einem Brexit müsse er Steuern erhöhen und Ausgaben kürzen. "Es muss gehandelt werden angesichts der Folgen für die öffentlichen Finanzen", sagte er nun. Damit müsse aber gewartet werden, bis Camerons Nachfolger im Amt sei. Dieser will im Oktober gehen.

Cameron ließ demonstrativ Normalität signalisieren. Seine Sprecherin sagte, der Regierungschef habe im Kabinett gesagt, die Regierung könne mit den Brexit-Vorbereitungen beginnen. Die Entscheidungen werde aber sein Nachfolger treffen. Ansonsten sollten die Minister in gewohnter Manier weiterarbeiten. Wann der Brexit formell nach Artikel 50 des EU-Vertrages aktiviert werde, sei eine britische Entscheidung. EU-Vertreter dringen dagegen auf einen zügigen Beginn der Austrittsgespräche.

Vor dem Hintergrund des Börsenbebens und der Unsicherheit in der Wirtschaft versicherte der frühere Londoner Bürgermeister Johnson im "Telegraph": "Es wird weiter freien Handel und Zugang zum EU-Binnenmarkt geben." Großbritannien habe es nicht eilig, die EU zu verlassen. Die negativen Folgen eines Brexit würden aber "weit übertrieben". Die Regierung werde den Austrittsantrag erst stellen, wenn es ein klareres Bild der künftigen Beziehungen mit der EU gebe. Bundeskanzlerin Angela Merkel schloss Verhandlungen der EU mit Großbritannien vor einem formellen Austrittsantrag dagegen aus. Der französische Außenministers Jean-Marc Ayrault betonte, Großbritannien werden den Zugang zum EU-Markt nicht automatisch erhalten.

Camerons Nachfolger soll nach Angaben einer Parteikommission spätestens am 2. September feststehen. Der Findungsprozess in der konservativen Partei solle kommende Woche beginnen, sagte der Kommissionsvorsitzende Graham Brady. Die 27 übrigen Staats- und Regierungschefs der EU wollen bei ihrem Gipfel am Mittwoch ohne Cameron über den Brexit beraten. Am Abendessen am Dienstag wird Cameron teilnehmen.

KONSERVATIVE UND LABOUR-PARTY SUCHEN NACH FÜHRUNG



Die knappe Entscheidung der Briten stürzte die regierenden Konservativen und die Labour-Partei in die Krise. Nachdem elf führende Labour-Vertreter am Wochenende Corbyns Schattenkabinett verlassen hatten, kündigten ihm etliche weitere Gefolgsleute die Unterstützung. Sie werfen Corbyn vor, nicht überzeugend genug für den EU-Verbleib geworben zu haben, und trauen ihm nicht zu, die Partei in mögliche Neuwahlen zu führen. Bei den Konservativen wird Medienberichten zufolge neben Johnson auch Innenministerin Theresa May in das Rennen um die Cameron-Nachfolge einsteigen.

Mehr als drei Millionen Briten fordern bereits wegen des knappen Ausgangs per Petition ein neues Referendum. Schottland hatte zudem ankündigt, mit allen Mitteln um seinen Verbleib in der EU kämpfen zu wollen. Sowohl eine Blockade des Brexit-Beschlusses als auch ein neues Referendum zur Loslösung von Großbritannien werden diskutiert. Wie lange sich die Hängepartei hinzieht, ist unklar. Nach den Worten von Außenminister Philip Hammond gibt es keinerlei Vorschriften für den Zeitpunkt, an dem Großbritannien seinen Austritt aus der EU verkünden müsste. Beobachter rechnen allerdings damit, dass die Wirtschaft Druck machen wird, keine lange Phase der Unsicherheit entstehen zu lassen, die Investoren weiter davon abhalten könnte, ihr Geld auf der Insel anzulegen.

Der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert sagte in Berlin: "Die Bundesregierung will keine Hängepartie." Das könne in niemandes Interesse in Europa sein. Man respektiere aber, dass die Briten eine überschaubare Zeit für den Austrittsprozess brauchten. Anders als Merkel dringt die SPD auf einen möglichst zügigen Austrittsantrag aus London.

Der britische Luxuswagen-Bauer Aston Martin forderte die britische Regierung auf, rasch für Klarheit und wirtschaftliche Stabilität zu sorgen. Die zweitgrößte europäische Billig-Airline Easyjet kassierte ihre Gewinnprognose für das laufende Quartal. Wegen des Brexit könnten sich weniger Menschen im Sommer für eine Flugreise entscheiden, teilte die britische Fluggesellschaft mit. Mit der Aussage schickte der Konzern seine Aktien auf Talfahrt, die um ein Fünftel einbrachen. Ungarns Wirtschaftsminister Mihaly Varga sagte, seine Regierung bereite ein "Willkommenspaket" für Unternehmen vor, die Großbritannien nun verlassen wollten.