Volkswagen-Chef Herbert Diess drückt bei der Transformation des Autobauers hin zu einem Technologiekonzern aufs Tempo. Bei der Besetzung von Führungspositionen ist er mit Belegschaftsvertretern so sehr in Streit geraten, dass er im Aufsichtsrat eine vorzeitige Vertragsverlängerung verlangt und damit praktisch die Vertrauensfrage gestellt hat.

Medienberichten zufolge bemüht sich das Kontrollgremium derzeit darum, die Situation zu entschärfen - doch die Verärgerung ist auf allen Seiten groß. "Da herrscht im Moment selbst für VW-Verhältnisse etwas zu viel Unruhe", kommentiert Autoanalyst Jürgen Pieper vom Bankhaus Metzler die Lage.

Der Ausgang ist ungewiss, über einen Rücktritt von Diess wurde bereits spekuliert. Eine Ablösung erscheint allerdings eher unwahrscheinlich, ebenso die geforderte Vertragsverlängerung. Bereits im Juni war es eng um den 62-Jährigen geworden, als er den Aufsichtsräten Indiskretionen und "Rechtsbruch" vorwarf - sich dann aber entschuldigte und weitermachte.

Schräge Verfassung


"Es ist von außen schwer zu sagen, was im Königreich Wolfsburg vor sich geht", erläutert Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer gegenüber €uro am Sonntag die Lage. "Aber es sind die alten Ungleichgewichte, die wieder aufbrechen. Mit der deutschen Mitbestimmung, dem VW-Gesetz und der 20-Prozent-Beteiligung des Landes Niedersachsen hat der VW-Konzern eine schräge Verfassung. Im Aufsichtsrat dominiert die IG-Metall gemeinsam mit dem Land Niedersachsen."

Dabei kann Diess durchaus auf breite Rückendeckung im Konzern für seine Umbaupläne hin zu E-Mobilität und Digitalisierung zählen. So hat der Aufsichtsrat für die kommenden fünf Jahre Investitionen von 73 Milliarden Euro in klimaschonendere Antriebe und Digitalisierung freigegeben. VW will in den nächsten Jahren zum weltweit führenden E-Mobilitäts-Anbieter aufsteigen. "Dass man das Investitionsbudget noch einmal deutlich erhöht hat, zeigt den großen Ehrgeiz in Wolfsburg, die Nummer 1 bei E-Mobilität zu werden", sagt Metzler-Analyst Pieper. Getragen wird diese Strategie auch von der Arbeitnehmerseite.

Doch Diess will mehr. Es gehe ihm darum, "alte, verkrustete Strukturen aufzubrechen und das Unternehmen agiler und moderner aufzustellen", kündigte er kürzlich an. Belegschaftsvertreter wie der mächtige Gesamtbetriebsratschef Bernd Osterloh interpretieren das als Kampfansage. Sie wittern harte Kostensenkungsprogramme und Stellenabbau.

Der neue Konflikt brach Insidern zufolge auf, nachdem Diess offenbar Schlüsselpositionen im Vorstand neu besetzen will - insbesondere das Finanz- und das Beschaffungsressort. Finanzchef Frank Witter scheidet im Juni aus familiären Gründen aus, Beschaffungsvorstand Stefan Sommer ist bereits gegangen. Zwei weitere Ressorts sollen zusammengelegt werden. Die Belegschaftsvertreter sehen die Diess-Kandidaten kritisch und fühlen sich übergangen.

"Unendliche Geschichte"


Für den Autoexperten Dudenhöffer ist der Ausgang des wieder aufgeflammten Streits in Wolfsburg ungewiss. Ein Szenario hat er aber parat: "Es könnte wieder einen Kompromiss geben, bei dem die Familie auf Harmonie setzt und mit Diess in die Zukunft gehen will. Dieser Kompromiss wird dann Zugeständnisse kosten. Aber der Konflikt wird wegen der Ungleichgewichte in der Unternehmensverfassung immer wieder aufbrechen. Insofern bleibt VW eine unendliche Geschichte."

Dem selbst gesteckten Ziel eines Börsenwerts von 200 Milliarden Euro kommt VW damit nicht näher. Derzeit liegt die Marktkapitalisierung bei 78 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Der US-Elektroautobauer Tesla, an dem sich die Wolfsburger messen, ist mit 450 Milliarden Euro mehr als fünf Mal so viel wert. Die neuen Querelen belasten nicht nur die Aktie, sondern schwächen auch Diess als Vorstandschef, sagen Analysten.