An der Spitze der EU-Treuen warnte Premierminister David Cameron davor, britischen Rentnern drohten wegen knapper Staatssäckel nach einem Ausstieg Nullrunden. Am Sonntag lobte zudem das Oberhaupt der anglikanischen Kirche, Justin Welby, die Europäische Union (EU) als Garant für Frieden, britische Top-Wissenschaftler priesen sie als Grundlage internationaler Spitzenforschung. Prominente Brexit-Befürworter versprachen ihren Anhängern dagegen, ein Alleingang bringe den Briten mehr Wohlstand sowie die verhasste EU zum Kollaps.

Cameron sagte dem "Observer", ein EU-Austritt würde ein Loch in die öffentlichen Finanzen reißen. Deshalb müsse dann etwa auf jährliche Renten-Erhöhungen, die Befreiung von Fernsehgebühren oder Gratis-Bustickets verzichtet werden. Auch im öffentlichen Gesundheitswesen müsse gespart werden. Seine Äußerungen zielten auf die ältere Bevölkerung, die als besonders EU-skeptisch gilt. In der BBC betonte Cameron zudem, ein Ja-Votum werde dem Land mehr Gewicht in Brüssel bringen: Nach dem beispiellosen Referendum führe kein Weg mehr an britischen Wünschen vorbei.

Die Bürger stimmen am 23. Juni über einen Verbleib in der 28-Staaten-Gemeinschaft ab. In Umfragen liefern sich die rivalisierenden Lager ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Gerade jüngste Erhebungen werfen ein Schlaglicht auf die Spaltung der Bevölkerung und die Schwierigkeit, genaue Prognosen zu liefern.

So lagen die EU-Anhänger in einer am Samstag im "Observer" veröffentlichten Umfrage des Instituts Opinium mit 44 Prozent vor den EU-Gegnern mit 42 Prozent. 13 Prozent sagten, sie hätten sich noch nicht entschieden. Eine Umfrage von YouGov für "The Sunday Times" sah dagegen das Brexit-Lager mit 43 Prozent vor den Befürwortern einer EU-Zukunft mit 42 Prozent.

Nicht zuletzt wegen der schwankenden Umfragen blicken vor allem die Finanzmärkte auf Trends in den Wettbüros. Nach einer Umfrage vom Freitag, in der Brexit-Anhänger zehn Prozentpunkte führten, sahen die Buchmacher die Wahrscheinlichkeit für einen Verbleib auf 70 von 78 Prozent schwinden.

SCHÄUBLE: EUROPA FUNKTIONIERT NOTFALLS AUCH OHNE DIE BRITEN



Welby, der Erzbischof von Canterbury, erklärte in einem Gastbeitrag für die "Mail on Sunday", er werde für die Gemeinschaft stimmen. "Die EU ist ein einem durch den Krieg jenseits jeder Vorstellungskraft zerstörten Europa entstanden und hat den Kontinent geprägt." Sie habe den Europäern mehr Wohlstand und Wohlfahrt gebracht als jemals zuvor, fügte hinzu. Im "Daily Telegraph" schrieben 13 Nobelpreisträger, ein EU-Ausstieg drohe der Wissenschaft zu schaden. Die Forschung über Grenzen hinweg stehe ebenso auf dem Spiel wie ihre Finanzierung.

Auch aus Deutschland kamen erneut Plädoyers für ein Ja zur EU. "Jeder wünscht sich, dass sich die Briten für die EU entscheiden, ich auch", sagte der Chef der Finanzaufsicht Bafin, Felix Hufeld, dem "Tagesspiegel". Sollten sie gehen, sei das vor allem für Großbanken ein Problem.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble warnte die Briten vor den Folgen einer Abkehr von ihren Partnerstaaten, mit denen das Land schließlich eng verflochten sei. "Da wäre es doch ein Wunder, wenn ein Ausscheiden Großbritanniens ohne ökonomische Nachteile bliebe", erklärte der CDU-Politiker im "Spiegel". Die Euro-Zone sei aber darauf vorbereitet, negative Auswirkungen eines Austritts zu mindern. Er fürchte dabei auch nicht um den Bestand der EU: "Europa wird zur Not auch ohne Großbritannien funktionieren".

Das sieht der im Lager der EU-Gegner populäre britische Politiker Nigel Farage nach eigenen Worten anders: Der Chef der UK Independence Party (UKIP) erklärte in der italienischen Zeitung "Corriere della Sera", ein Brexit würde einen Domino-Effekt auslösen, so dass nach den Briten gleich auch die Dänen der Gemeinschaft den Rücken kehrten. "Die EU steht vor dem Zusammenbruch, sie löst sich in ihre Einzelteile auf." Die Warnungen von Brexit-Gegnern wie Cameron seien lächerliche Geschichten zur Angstmacherei.

Die Neuordnung der Verbindungen Großbritanniens zur EU im Falle eines Ausstiegs dürften nach Einschätzung von EU-Ratspräsident Donald Tusk sieben Jahre dauern. "Jedes einzelne der dann 27 EU-Mitgliedsländer sowie das Europäische Parlament müssen dem Gesamtergebnis zustimmen", sagte Tusk der "Bild". "Und ich fürchte, ohne jede Erfolgsgarantie", so Tusk.