Vier Jahre nach Auffliegen der VW-Abgasaffäre beginnt Ende September ein Mammutprozess. Wie die Chancen auf Schadenersatz stehen und für wen sich die Klage lohnt. Von Stefan Rullkötter

Ich will mein Geld zurück, das lass ich mir nicht bieten". Der Song, den die Sängerin Pe Werner vor 27 Jahren veröffentlichte, dürfte diesen Herbst in der Playlist Hunderttausender Dieselfahrer ganz weit oben stehen. Sie sind in ihrer großen Zahl der wesentliche Teil einer Musterfeststellungsklage, die der Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) und der ADAC am 1. November 2018 beim Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig eingereicht hatten.

Die Verbände wollen stellvertretend für die betroffenen Verbraucher mit diesem noch relativ neuen Klage­instrument (siehe Kasten rechts) gerichtlich klären lassen, ob Volkswagen unrechtmäßig gehandelt hat und ob sie wegen manipulierter Abgassysteme in ihren Autos Schadenersatzansprüche haben. "Der Autokonzern hat betrogen und muss deshalb zur Rechenschaft gezogen werden", meint VZBV-Verbandschef Klaus Müller.

Im September 2015 hatte VW nach Ermittlungen von US-Behörden den Einbau illegaler Software in rund elf Millionen Dieselfahrzeuge weltweit eingeräumt. Die Programme drücken den Schadstoffausstoß bei Emissionstests, damit dem Anschein nach gesetz­liche Grenzwerte eingehalten werden. In Deutschland sind 2,6 Millionen VW-­Autos mit der Betrugssoftware ausgerüstet.

Und die Zeit drängt für jene deutschen Dieselfahrer, die im Gegensatz zu rund 440 000 vergleichbar betroffenen Autokunden noch keine rechtlichen Schritte eingeleitet haben. Sie können der Musterfeststellungsklage gemäß den gesetzlichen Vorgaben noch bis einen Tag vor der ersten öffentlichen Anhörung beitreten. Diese ist beim Oberlandesgericht Braunschweig auf Montag, den 30. September, terminiert. Da der für den Fristablauf maßgebliche 29. September auf einen Sonntag fällt, kann man diesem Verfahren ausnahmsweise auch noch am Folgetag beitreten.

Voraussetzungen schnell prüfen


Wer sich als Dieselfahrer dieser Sammelklage noch anschließen will, sollte in einem Kurzcheck prüfen, ob er tatsächlich alle Voraussetzungen dafür erfüllt. Das anstehende Verfahren umfasst nur Fahrzeuge der Marken Audi, Seat, Skoda und VW mit Dieselmotoren des Typs EA 189. Außerdem müssen die Autos nach dem 1. November 2008 gekauft worden sein. "Wer sich falsch ins Klageregister einträgt und den Prozessverlauf abwartet, riskiert, dass sein Fall verjährt", warnt Müller.

Bis zum 13. September gab es bereits 438 300 Anmeldungen zur Musterfeststellungsklage. Darunter dürften sich aber auch einige doppelte Einträge oder solche von Dieselfahrern finden, die Autos mit anderen Motoren fahren oder aus anderen Ländern kommen. Bei Letzteren hat der zuständige OLG-Senat bereits durchblicken lassen, dass er deren Verfahrensbeteiligung für fraglich hält.

Auch der Versicherungsstatus der Betroffenen sollte bei der Klagetaktik von Bedeutung sein. Dieselfahrern mit Rechtsschutzversicherung empfehlen die Verbraucherzentralen, den Weg einer Einzelklage zu beschreiten. "Die Musterfeststellungsklage ist ein Angebot an Geschädigte, die keine Rechtsschutzversicherung haben und die Risiken durch individuelle Klagen vermeiden wollen", sagt Müller.

Eine Individualklage nimmt durchschnittlich neun Monate in Anspruch. Das kann bei der fälligen Nutzungsentschädigung mehrere Tausend Euro ausmachen. Zudem bekommt der Kläger anschließend umgehend seinen Schaden­ersatz ausgezahlt und gibt das Auto zurück. Die Verbraucherzentralen betrachten auch Alternativangebote sogenannter Legal-Techs und Prozess­finanzierer ausdrücklich nicht als Konkurrenz. Diese werben vor allem damit, dass betroffene Kunden schneller als bei der Musterfeststellungsklage und unkomplizierter zu Schadenersatz gelangen können. Allerdings sind hier bei einem Klageerfolg Gewinnbeteiligungen von bis zu 50 Prozent fällig.

Zudem zeigen sich die klagenden Verbände vor Prozessbeginn kompromissbereit. Man könne sich auch Vergleichsverhandlungen vorstellen und habe "entsprechende Signale" an den Klagegegner ausgesandt. Voraussetzung für einen wirksamen Vergleich vor Gericht sei aber "ein attraktives Angebot von Volkswagen".

Daran hat der Autokonzern offenbar kein Interesse: Eine solche Möglichkeit sei wegen der vielen unterschiedlichen Fallkonstellationen kaum vorstellbar, hatten Firmensprecher in der Vergangenheit wiederholt erklärt. Der Autobauer betont zudem, dass die Kunden aus Unternehmenssicht keinen Schaden erlitten hätten, da nach einem Softwareupdate alle Fahrzeuge im Verkehr genutzt werden könnten. Bestätigt fühlt sich Volkswagen durch bereits ergangene Urteile von Oberlandesgerichten. Daher ist zu erwarten, dass die mündliche Anhörung am 30. September nur den Auftakt zu einem langen Gerichtsverfahren darstellen wird. Der zweite Termin ist für den 18. November geplant. Experten erwarten, dass der Prozess inklusive einer nächsten Runde am Bundesgerichtshof (BGH) vier bis fünf Jahre, also bis mindestens 2025 dauern dürfte. Beim obersten Zivilgericht sind bereits mehr als 30 Diesel-Verfahren anhängig. In Karlsruhe wurde aber bisher keine Diesel-Klage verhandelt - auch weil die Kunden und VW sich lieber verglichen.

Verfahrensteilnehmer brauchen somit einen langen Atem - und sollten ihr Fahrzeug in dieser Zeit am besten wenig oder gar nicht bewegen: Selbst wenn VW zu Schadenersatz verurteilt wird, müssen sich Autokäufer eine Nutzungsentschädigung für die gefahrenen Kilometer anrechnen lassen. Das kann am Ende einen hohen Wertverlust bedeuten.

Hoffnung macht den Musterklägern, dass der BGH in einem sogenannten Hinweisbeschluss die illegale Abgastechnik als Sachmangel einstufte. Das ist Voraussetzung, um erfolgreich gegen Autohändler vorzugehen. In dem Beschluss steht auch, dass Neuwagenkäufer trotz zwischenzeitlichen Modellwechsels einen Anspruch darauf haben können, vom Händler ein mangelfreies Ersatzauto zu erhalten .

Dagegen wurden Diesel-Verfahren in Braunschweig bisher mehrheitlich zugunsten von VW entschieden. Auch die Musterfeststellungsklage wird hier verhandelt. Der Grund: Der Gerichtsstand richtet sich nach dem Sitz des beklagten Unternehmens.

Interview: "Ich fahre jetzt lieber Bahn als Volkswagen"

Fondsanalyst Stefan Loipfinger aus ­Rosenheim spielt derzeit eine ungewohnte Rolle. Statt mit Beteiligungsangeboten setzt er sich mit VW auseinander.


Börse Online: Herr Loipfinger, worum geht es in Ihrem Auto-Streitfall?
Stefan Loipfinger: Ich habe 2012 einen VW Touareg mit einem Drei-Liter-Dieselmotor (EA 897) gebraucht gekauft. Das Fahrzeug war damals vier Monate alt. Bei dieser Motorreihe räumen VW und Audi die unzulässige Abschalteinrichtung in Deutschland erst ab dem Jahr 2014 ein, nicht aber für frühere Zeiträume.

Was ist an diesem Verhalten der Autobauer widersprüchlich?
In den USA geben die Autokonzerne bei diesem Motor bereits mit Baujahr 2012 eine entsprechende Abschalteinrichtung zu. Das belegen mir vorliegende Dokumente - zum einen ist das eine von VW selbst für Fahrer der betroffenen Autotypen verfasste Broschüre und zum anderen das mit den USA getroffene "Clean Air Act Civil Settlement"..

Was steckt Ihrer Meinung nach hinter dieser unterschiedlichen Behandlung durch VW?
Der Grund dafür könnte darin liegen, dass die Grenzwerte bei dieser ersten Generation nur mit einer Hardwarenachrüstung ein­gehalten werden können. Volkswagen will hierzulande bekanntlich nur Softwarenachrüstungen vornehmen, aber keinen Schadenersatz an Betroffene zahlen..

Wie ist der aktuelle Stand in ihrem individuellen Zivilprozess?
Bei mir gibt es bislang noch kein Urteil. Im April 2019 fand eine erste mündliche Anhörung beim zuständigen Landgericht Traunstein statt. Die Klagebevollmächtigte von VW zeigte sich völlig uneinsichtig, da es in meinem Auto angeblich keine unerlaubte Abschalteinrichtung gebe. .

Was kritisieren Sie an dem Verhalten von Volkswagen konkret?
Ohne die konkreten Fakten zu nennen, wird vom Autokonzern einfach alles abgestritten. Bis heute wurde nicht schlüssig erklärt, warum VW für den Motorentyp meines Dieselfahrzeugs in den USA eine illegale Abschalteinrichtung zugibt und diese in Deutschland nicht verbaut sein soll..

Was ärgert Sie an dieser juristischen Aus­einandersetzung am meisten?
Obwohl VW eine "totale Aufklärung und keine weiteren Lügen" versprochen hat, wird nach meinen persönlichen Erfahrungen weiterhin die Unwahrheit gesagt und auf Zeit gespielt. Von den VW-Anwälten werde ich sogar als Täter hingestellt, weil ich als Fahrer eines VW Touareg BlueMotion ein gewissenloser Umweltsünder sei, der jetzt nur scheinheilig argumentiere..

Welche Konsequenzen ziehen Sie für sich aus diesem Streitfall?
Leider kann ich mein Dieselfahrzeug zwischenzeitlich nicht verkaufen. Ich muss erst das Prozessende abwarten, um durch ein rechtskräftiges Urteil Sicherheit zu haben. Mittlerweile schäme ich mich für meinen VW -Touareg. Wann immer es geht, fahre ich statt mit dem Auto mit dem Zug..

Musterfeststellungsklage: Hohe Hürden vor Gericht

Seit November 2018 haben geschädigte Verbraucher die Möglichkeit, Schaden­ersatzansprüche gegen Konzerne gemeinsam und zunächst ohne ein eigenes Prozesskostenrisiko gerichtlich geltend zu machen. Dafür müssen eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein.

Mindestzahl klagender Verbraucher

Für eine Musterfeststellungsklage müssen in einem ersten Schritt mindestens zehn betroffene Kunden ihre Ansprüche anmelden. Diese individuellen Fälle ­müssen von einem Verband aufbereitet werden, der dann die Klage einreicht.

Eintragung ins Klageregister

Innerhalb von zwei Monaten müssen sich anschließend mindestens 50 Geschädigte, in diesem Fall Besitzer von Autos mit entsprechendem Dieselmotor, in ein Klageregister beim Bundesamt für Justiz eintragen. Im bislang größten Verfahren ließen sich bis Mitte September rund 440 000 Besitzer eines vom Abgasskandal betroffenen Fahrzeugs registrieren, teilte der Verbraucherzentrale Bundesverband mit. Das Register war im November 2018 eröffnet worden. Eine Anmeldung zur Musterfeststellungsklage ist bis spätestens ­einen Tag vor der ersten öffentlichen ­Anhörung möglich.

Klageberechtigung von Verbänden

Aus Angst vor einer "Klageindustrie" wie in den USA hatte der deutsche Gesetzgeber bei Einführung der Musterfeststellungsklage hohe Anforderungen an die Verbände gestellt: Klageberechtigt sind nur sogenannte "qualifizierte Einrichtungen", die nicht mit Gewinnerzielungs­absicht agieren dürfen. Zudem müssen klageberechtigte Verbände mehr als 350 Mitglieder haben und bereits länger als vier Jahre bestehen.

Keine Sammelklagen nach US-Vorbild

Das Hauptmotiv für die Einführung der Musterfeststellungsklage in Deutschland bestand darin, die Rechte von einzelnen Verbrauchern gegenüber großen Konzernen zu stärken. Eine Klageberechtigung, wie sie in den USA durch eine sogenannte "class action" besteht, gibt es hierzulande bisher nicht - und soll es auch künftig nicht geben. Denn eine bloße "Gruppenbetroffenheit" nach US-Recht ist in den Rechtsordnungen der EU weitgehend unbekannt - es gilt das Prinzip des Individualrechtsschutzes.

Vorbereitung individueller Klagen

Ziehen klageberechtigte Verbände vor Gericht, fällt dieses eine Entscheidung, ob sich ein Unternehmen musterhafte Verfehlungen hat zuschulden kommen lassen. Den klagenden Verbrauchern wird in diesem Verfahren kein individueller Anspruch auf Schadenersatz oder eine Rückabwicklung ihres Kaufvertrags zugesprochen. Betroffene können sich aber auf diese Entscheidung berufen, wenn sie im Anschluss an dieses Urteil ihre individuellen Ansprüche selbst einklagen. Der Gesetzgeber ging bei Einführung der Musterfeststellungsklage von 450 Verfahren jährlich vor deutschen Gerichten aus.

Rechtliche Bindungswirkung

Wird eine Musterfeststellungsklage rechtskräftig abgewiesen, sind Verbraucher, die sich dafür registriert hatten, an die negativen Feststellungen gebunden. Sie können Schadenersatzansprüche nicht mehr individuell vor einem ­anderen Gericht geltend machen. Ein ­Ausweg für betroffene Verbraucher: Sie können ihre Anmeldung zur Musterfeststellungsklage per Rücknahme-Erklärung bis zum Verhandlungsbeginn zurückziehen.