Eine große Mehrheit wird das Vergleichsangebot von VW in der Musterklage wohl annehmen. Zehntausende klagen aber weiter. Von Felix Petruschke
Aus rechtsgeschichtlicher Sicht könnte man von einem Erfolg sprechen: Erstmalig haben sich in Deutschland Hunderttausende Verbraucher gegen einen Großkonzern erfolgreich gewehrt und Entschädigungen erstritten. In einer Musterklage zwischen VW und Verbraucherschützern einigten sich beide Seiten Anfang März auf ein Vergleichsangebot. Der gefundene Kompromiss hat damit Hoffnungen geweckt, das Thema Dieselskandal endlich abschließen zu können. Doch so einfach ist die Sache nicht und eine saubere Lösung in weiter Ferne.
Bis einschließlich Montag, 20. April, müssen sich alle Kunden die in der Musterklage eingetragen sind entscheiden, ob sie das Vergleichsangebot von VW annehmen oder ob sie individuell weiterklagen. Anspruch auf Entschädigung haben alle Besitzer eines Wagens von Audi, Seat, Skoda und Volkswagen mit einem Dieselmotor EA189, der vor dem 1. Januar 2016 gekauft wurde. Im Durchschnitt bietet VW rund 2000 Euro Entschädigung pro Fahrzeug. Eine genaue Liste mit den Entschädigungen und Fahrzeugmodellen gibt es hier:
Kunden die den Vergleich annehmen, verzichten damit automatisch auf weitere Forderungen gegen VW. Kunden, denen das Angebot zu wenig ist, können bis Oktober Einzelklage gegen VW erheben. Rechtsanwalt Christoph Lindner aus Rosenheim erklärt etwa, dass seinen Mandanten vor Gericht im Schnitt fast doppelt so hohe Entschädigungssummen zugesprochen wurden.
Was VW-Kunden jetzt machen sollten
Verbraucheranwälte raten fast unisono jedes Vergleichsangebot einzeln zu prüfen: Beispielsweise könne es sich für Kunden, die ihr Auto als Gebrauchtwagen günstig gekauft haben, deutlich mehr lohnen den Vergleich anzunehmen, als für Kunden die ein teures Auto gekauft haben und damit noch wenig gefahren sind. Ein guter Richtwert seien zudem 15-20 Prozent des ursprünglichen Kaufpreises als Entschädigung. Wird dieser Richtwert stark unterschritten sollten sich Dieselfahrer überlegen weiterzuklagen.
Ermutigend für Verbraucher: Die große Mehrheit der Oberlandesgerichte entscheidet mittlerweile in ihrem Sinne. Vom Bundesgerichtshof, dem höchsten Zivil- und Strafgericht, wird im Mai ein erstes und wahrscheinlich wegweisendes Urteil erwartet. Viele Beobachter sehen das Angebot von VW daher als Versuch, mit möglichst vielen Geschädigten noch vor Mai zu einer vergleichsweise billigen Einigung zu kommen.
Eine wichtige Rolle bei der Entscheidung spielt aber offenbar der Faktor Zeit: Viele Kunden geben sich lieber jetzt mit einer relativ geringen Summe zufrieden, als noch monatelang auf ein Einzelurteil warten zu müssen. Das zeigt sich daran, dass sich bereits 220.000 von insgesamt rund 260.000 anspruchsberechtigten Kunden aus der Musterklage (Stand: 15.04.) in das VW-Vergleichsportal (mein-vw-vergleich.de) eingetragen haben - ein klares Indiz, dass sie planen den Vergleich anzunehmen. Die übrigen Kunden sind entweder noch unentschlossen oder wollen weiterklagen.
Die Klagewelle geht weiter
Insgesamt sind nach VW-Angaben derzeit noch rund 73.000 Einzelklagen vor deutschen Gerichten in Arbeit. Die Zahl könnte noch weiter steigen, denn es gibt Hinweise, dass bei weiteren Fahrzeugmodellen, etwa dem Touareg oder dem Multivan (nicht in der Musterklage enthalten), manipuliert wurde. Hier prüfen nun Sachverständigengutachter, wer im Recht ist. Da VW die Vorwürfe abstreite, seien die Ansprüche noch nicht verjährt, betont Anwalt Lindner. Die Haltung von VW könnte sich also noch rächen. Insgesamt kostete der Dieselbetrug bereits 31 Milliarden Euro.
Der Dieselskandal betrifft aber nicht allein den Wolfsburger Autohersteller. Auch gegen Konkurrenten wie Mercedes oder BMW werden Prozesse wegen des Verdachts auf Verwendung illegaler Abschalteinrichtungen geführt. Wie das Handelsblatt am Donnerstag berichtete, sei auch Mercedes mittlerweile dazu übergegangen den Klägern Vergleiche anzubieten. Der sogenannte VW-Dieselskandal ist also vielmehr ein Branchenskandal.