Die Stimmung gegenüber den europäischen Märkten ist binnen zwölf beziehungsweise 18 Monaten (je nachdem, wo der Stimmungsumschwung zeitlich angesetzt wird) von sträflicher Vernachlässigung in allgemeine Bewunderung umgeschlagen. Wiederholt haben wir betont, dass es in Europa unverändert Risiken gibt, die sowohl politischer als auch wirtschaftlicher Natur sind, aber auch den Arbeitsmarkt und die Gewinnentwicklung in den Unternehmen betreffen. Fakt ist aber auch, dass einige der größten und führenden Unternehmen der Welt auf dem alten Kontinent ansässig sind und bei gewissen Anlegern eine natürliche Neigung besteht, das Engagement bei europäischen Aktien aufzustocken. Das gilt insbesondere für europäische Anleger, die sich (meiner Ansicht nach zu Recht) Sorgen über die Entwicklung an den Anleihemärkten machen und die daher ihre Aktiengewichtung - ausgehend von historisch sehr niedrigen Niveaus - erhöhen.
Überdies hat die Berichtssaison gerade erst begonnen. Broker nutzen diese gerne, um Wirbel zu machen, Angst und Hektik zu verbreiten. Sprunghafte Investoren wiederum neigen in solchen Zeiten dazu, kalte Füße zu bekommen und die Tatsachen außer Acht zu lassen: So dürften die Volkswirtschaften in Europa 2014 auf Erholungskurs bleiben - und die Prognosen für die Unternehmen sind gut. Durchschnittlich wird für 2014 ein Gewinnanstieg von 13 Prozent erwartet, erste Schätzungen für 2015 liegen bei elf Prozent. Auch deshalb ist es riskant, in einzelne Titel allein aufgrund der Meinung eines Fondsmanagers zu investieren. Möglicherweise gefällt ihm eine Aktie wegen ihrer langfristigen Aussichten. Aber natürlich ist es für ihn auch kein Problem, sich eine Geschichte auszudenken, um eine Aktie kurzfristig nach oben oder unten zu treiben. Das gilt vor allem in einer Welt, in der eine Meute renditehungriger Hedgefondsmanager ihr Unwesen treibt.
Für den Augenblick bleiben wir jedenfalls bei unserer vorsichtigen Haltung gegenüber vielen Verbrauchsgüterwerten. Die großen Schwankungen bei den Schwellenländerwährungen könnten einen weiteren Grund für eine gewisse Zurückhaltung gegenüber einigen dieser Titel liefern. Bei Banken sind wir ebenfalls geringfügig untergewichtet, obwohl wir uns dem Sektor in den vergangenen 18 Monaten mit deutlich mehr Begeisterung wieder zugewandt haben und sich einige Titel aus diesem Bereich, wie ING und Crédit Agricole, glänzend erholen. Banken dürften von einem wirtschaftlichen Aufschwung in Europa kräftig profitieren. Theo retisch sollten auch Industriewerte zulegen, wenngleich dies angesichts der Abwertung des Yen um 25 Prozent und dem damit einhergehenden härteren Wettbewerb möglicherweise ein äußerst riskanter Bereich ist.
Da Europa in eine positivere Phase mit kräftigerem Wachstum und steigenden Steuereinnahmen (und etwas mehr Ausgabendisziplin der Regierungen) eintritt, gehe ich ferner davon aus, dass sich die Infrastrukturausgaben beleben beziehungsweise steuerliche Anreize für die Investition vorhandener Mittel geschaffen werden.
Unsere Kernbotschaften für 2014 lauten: Die europäischen Volkswirtschaften befinden sich auf dem Wege der Genesung, und die Wirtschaft wird voraussichtlich kräftiger wachsen als derzeit vorhergesagt. Ein Blick auf das rasante Wachstum in Großbritannien, das meines Erachtens ein wichtiges Barometer ist, reicht aus, um zu erahnen, wie schnell für andere europäische Länder eine Phase mit überraschend solidem Wachstum beginnen könnte. Der Wermutstropfen: Vermutlich stehen uns etliche Jahre mit schleppendem Wirtschaftswachstum bevor. Daher bevorzugen wir unverändert eine umsichtige Mischung aus erstklassigen Wachstumswerten und Titeln, die von einer Erholung profitieren werden. Angesichts der erwartbaren Schwankungen werden wir deshalb wie gehabt an schlechten Tagen kaufen und dann vorsichtig sein, wenn sich etwas zu viel Gelassenheit breitmacht.
Tim Stevenson
Stevenson ist Director of European Equities bei Henderson Global Investors (HGI). 1986 hat er im Unternehmen als Fondsmanager für Europa begonnen und verantwortete in dieser Position auch das Geschäft mit ausländischen Kunden. HGI ist eine internationale Vermögensverwaltung mit einer Geschichte, die bis 1934 zurückreicht. Zurzeit verwaltet Henderson ein Anlagevermögen von rund 85 Milliarden Euro.