Christian Machts ist nicht das, was man einen Technikfreak nennen würde. Der 44 Jahre alte Geschäftsführer der deutschen Tochter der US-Fondsgesellschaft Fidelity, kann sich aber für Neues begeistern und scheut sich nicht, Innovationen auszuprobieren, auch wenn es dabei um Dinge geht, bei denen einige Menschen die Stirn runzeln. Für €uro hat er seine Erfahrungen mit einem implantierten Chip beschrieben.

Anfang 2020: Wie alles begann. Was für ein inspirierendes Treffen! Habe heute den "Bio-Hacker" Patrick Kramer kennengelernt. Der Experte für digitale und biologische Transformation ist überzeugt, dass der digitale Wandel nicht nur Prozesse verändert, sondern immer mehr den Menschen selbst. Ist das jetzt Science-Fiction, eine Verschwörungstheorie oder ein ernst zu nehmendes Zukunftsthema, das die Welt verändern wird? Ich bin neugierig und fasziniert von dem, was es in diesem Bereich bereits gibt und was in den nächsten Jahren alles möglich werden kann. Neue Sinne erlebbar machen, die Leistungsfähigkeit des Gehirns steigern, den Menschen upgraden …

Zugegeben: Vieles von dem hört sich erst einmal befremdlich an, manches birgt Risiken, und nicht alles wird glücklicherweise Realität werden. Ich setze mich dennoch damit auseinander, versuche, Gehörtes zu reflektieren. Haben wir nicht immer schon versucht, menschliche Funktionen wiederherzustellen und zu verbessern? Vor allem in der Medizin sind Herzschrittmacher, künstliche Augenlinsen und Hörgeräte, Insulinpumpen für Diabetiker oder mit Muskeln verknüpfte Prothesen Segnungen, die das Leben vieler Menschen erheblich verbessern. Wie wäre es, wenn man nichts mehr vergisst und im Handumdrehen eine neue Sprache lernen könnte? Für mich ist die Digitalisierung unseres heutigen Lebens ein Megathema, das viele Chancen birgt. Im Fokus standen bei mir im Vergleich zu den Bio-Hackern allerdings bislang vergleichsweise profane Fragen. Welche zusätzlichen Features hat das neueste iPhone? Was kann der Bordcomputer des neuen Tesla? Wie können wir bei Fidelity die Digitalisierung im Fondsmanagement, als Anlagethema und im Kontakt zu unseren Kunden nutzen? Aber: Der Funke ist übergesprungen, das Thema hat mich gepackt.

24. September 2020: Die Corona-Zahlen sind weiterhin vergleichsweise niedrig - zum Glück! Gleichzeitig spricht der Politiker und Medizinexperte Karl Lauterbach von einer nahenden zweiten Corona-Welle. Leider hat er oft mit seinen Prognosen recht behalten. Wir planen also die Fidelity-Kundenveranstaltungen im November alle digital. Auf dem Programm für das nächste Event steht unter anderem das Thema Technologie, das Anlegern an der Börse gute Renditen beschert hat und das Leben vieler Menschen in Zeiten der Pandemie immer stärker prägt. Ist die Digitalisierungswelle, die wir derzeit erleben, also erst am Anfang? Ich erinnere mich an den Vortrag von Patrick Kramer und lade ihn als Gastsprecher zur Veranstaltung ein.

25. September 2020: Eigentlich wollte ich Patrick Kramer nur kurz über die Veranstaltung informieren - dann haben wir mehr als eine Stunde gesprochen. Ich erzähle ihm, welche Technologien ich bereits ausprobiert habe: Puls- und Herzschlag-Tracker, VR-Brille … Für einen Bio-Hacker wie ihn ist das allerdings Schnee von gestern. Warum nicht mal die eigenen Sinne für neue Dimensionen schärfen und sich einen Chip implantieren lassen, mit dem man ein Körpergefühl für die Himmelsrichtungen, Elektromagnetismus oder die Uhrzeit gewinnt, fragt er mich. Mikrochip-Implantate hätten heute bereits unendliche Funktionen. Sie könnten genutzt werden, um den Körper zu überwachen, zum Beispiel um besser zu schlafen, sich gesünder zu ernähren und effizienter zu trainieren. Mit ihnen könne man aber auch ganz einfach über eine RFID-Identifikation Haus- und Autotüren öffnen, sich den Zugang fürs Büro oder Hotelzimmer freischalten lassen, am Flughafen einchecken, den öffentlichen Verkehr nutzen und wie mit einer Kreditkarte bezahlen - alles, ohne Handy, Schlüssel und Portemonnaie dabei zu haben. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sich das Merken von immer mehr Passwörtern mit einem solchen Chip erledigt hätte. Nicht mehr Facebook, sondern ich hätte meine Daten. Je mehr er von den Vorteilen eines Chips schwärmt, desto mehr gefällt mir der Gedanke eines solchen Implantats.

27. September 2020: Ich hätte es mir denken können. Meine Frau, gelernte Krankenschwester und Pädagogin in der Pflege, war über das Vorhaben nicht begeistert - freundlich ausgedrückt. Sich ohne Not einen Fremdkörper in die Hand implantieren zu lassen, das Risiko einer Entzündung, was macht man, wenn die Batterie leer ist, und wozu das Ganze überhaupt?! Zumindest den Einwand mit der Batterie konnte ich aus dem Stand zerstreuen. Der Chip hat nämlich keine. Die ein bis 1,5 Zentimeter lange Kapsel mit einem Durchmesser von zwei bis vier Millimetern ist aus biologischem Glas ohne eigene Energiequelle, was mir persönlich auch wichtig war. Das Ganze funktioniert mit dem NFC-Übertragungsstandard. NFC steht für Near Field Communication und ist ein internationaler Übertragungsstandard für den drahtlosen Datenaustausch über kurze Distanzen, also über einige wenige Zentimeter. Der Chip soll in einem relativ schmerzunempfindlichen Bereich zwischen Daumen und Zeigefinger platziert werden, sodass man ihn nach rund zwei oder drei Wochen quasi nicht mehr spürt. Bei meinem siebenjährigen Sohn kam die Idee deutlich besser an. In seiner Fantasie wurde ich abwechselnd zu Superman, Iron Man und C-3PO. Immerhin, die jüngere Generation scheint solchen Neuerungen offener gegenüber zu sein.

28. September 2020: Die Digitalisierung ist kein Feind, sondern Freund. Gerade in der Vermögensverwaltung wird sie ein großer Treiber für Verbesserungen sein. Ich bin überzeugt, dass wir erst am Anfang einer sehr dynamischen Entwicklung stehen. Gleichzeitig weiß jeder aus eigener Erfahrung, dass nicht immer alles auf Anhieb funktioniert. Neue Technologien müssen durchdacht und erprobt werden. Das ist bei einem so großen Vermögensverwalter wie Fidelity nicht anders. Solche Neuerungen können nicht von heute auf morgen umgesetzt werden und ziehen meist auch Investitionen in Höhe mehrerer Millionen Euro nach sich. Dabei stellen wir uns Fragen wie: Hält die Technik, was sie verspricht? Kann man den Prozess verbessern? Hilft die neue Technologie effektiv, den Kunden besser zu betreuen? Wie werden Menschen Fonds in fünf, zehn oder 20 Jahren kaufen - vielleicht über Plattformen wie Amazon oder Check24?

Technologisch führend zu sein, bedeutet auch, Innovationen und deren Chancen frühzeitig zu identifizieren. Auf die Idee mit dem Implantat bezogen denke ich: Wieso also nicht auch bei einem solchen Thema, das vielleicht in einigen Jahren oder Jahrzehnten kommt, schon mal eigene Erfahrungen sammeln?

10. November 2020: Alle meine Kollegen haben hart gegen mich gewettet. Aber ich werde es machen. Morgen lasse ich mir den Chip in die Hand implantieren. Es soll angeblich nicht besonders wehtun - hoffentlich! Am Ende überwiegen meine Neugier und Technikaffinität. Ich möchte jetzt einfach selbst ausprobieren, welche Möglichkeiten dieser Chip bietet. Ich habe mich außerdem umfassend darüber informiert, was der Chip kann, was nicht und wie die Implantation funktioniert. Die Risiken sind überschaubar: In wenigen Fällen kann es eine Entzündung geben, die dafür sorgt, dass die Wunde langsamer heilt. Mein NTAG216-Chip wird keine Energiequelle und eine Reichweite von weniger als einem Zentimeter haben. Und im allerschlimmsten Fall kann ich mir den Chip auch wieder aus der Hand entfernen lassen.

11. November 2020: Bei unserem digitalen Kundenevent läuft alles rund: Diskussionsrunden zu den Themen, die Anleger derzeit beschäftigen, Kapitalmarktausblick und die Präsentation aussichtsreicher Fonds - dann der Vortrag von Patrick Kramer. Sein Ausblick: Wenn das mit der Miniaturisierung weiter wie bisher voranschreitet, wird künftig quasi jeder einen solchen Chip haben. Langfristig wird es einen gewaltigen Schub bei der Denkfähigkeit, Kreativität und Intelligenz von Menschen geben. Jetzt bin ich dran. Ich muss zugeben: Die Kanüle, mit der der Chip implantiert wird, ist doch größer, als ich dachte … und der Schmerz ebenfalls. Ob mein Kreislauf …?

Nach einer kurzen Verschnaufpause ist es aber geschafft. Die nächste Stufe der digitalen Transformation ist genommen, und der Chip ist unter der Haut. Jetzt gibt es noch einen kleinen Verband, der nach drei Tagen abgenommen werden kann.

18. November 2020: Zwei Wochen nach dem Implantieren soll der Chip nicht mehr als Fremdkörper wahrzunehmen sein. Heute zwickt die Einstichstelle noch ein wenig. Man kann die Kapsel mit dem Finger ertasten, spürt sie sonst aber kaum. Jetzt geht es an die ersten Features. Ich stöbere im App-Store nach NFC-Anwendungen. Ich speichere meine Kontaktdaten und mein LinkedIn-Profil auf den Chip. Jetzt der Check: Kann meine Frau die Daten von ihrem Handy abrufen? Man muss den Chip sehr nah an den Handy-NFC-Reader halten, damit die Daten übertragen werden. Es funktioniert!

23. November 2020: Blicke können Bände sprechen. In der Videokonferenz mit den Kollegen schlägt mir eine Mischung von Neugier und Zweifel entgegen. Ich beantworte alle Fragen und komme zum Ergebnis: Die größte Auswirkung des Chips ist, dass man ein Gesprächsthema hat, das die Zuhörer in ihren Bann zieht. Vor allem die Frage, ob man mich jetzt auf Schritt und Tritt verfolgen kann, beschäftigt meine Kollegen. Nein, kann man nicht. Eine Kollegin lädt von meinem Chip meine Visitenkarte auf ihr Handy. Wir diskutieren weiter, welchen Nutzen der Chip konkret bringt und wohin die Reise gehen kann. Über Schweden, wo schon viele einen solchen Chip implantiert haben. Wir sprechen darüber, wie die Corona-Krise die digitale Transformation auf die Überholspur katapultiert hat: Homeoffice, Cloud-Netzwerke, Video-Calls, E-Commerce, Online-Bildung - all das hat dramatisch an Bedeutung gewonnen. Die Einführung des neuen Mobilfunkstandards 5G wird dies noch verstärken.

16. Dezember 2020: Ein wohlwollender Blick meiner Frau: Informationen über meine Allergien, meine Blutgruppe sind auf dem Chip gespeichert. Auch meine medizinischen Notfalldaten - auch wenn ich hoffe, sie nicht auslesen lassen zu müssen, es ist doch ein beruhigendes Gefühl für den Fall der Fälle.

11. Januar 2021: Bin ich schon drin? Technisch kann mein Chip Türen öffnen, die Umrüstung der Schlüsselzylinder in meinem Haus würde einige Hundert Euro kosten. Ich möchte zuerst den Bürozugang testen. Dazu will ich mir die Zugangsdaten für unser Office auf den Chip spielen lassen. Jetzt zeigt sich: Die alte Welt ist noch nicht kompatibel mit den Anforderungen der neuen. Die Bürotüren in Kronberg bleiben mir mit dem Chip verschlossen. Ich starte den nächsten Anwendungsversuch: Mittags gehe ich in die Firmenkantine - und will mit der Hand vor dem Lesegerät zahlen. Abgebucht. So schnell kann Bezahlen gehen. Ich bin begeistert. Diese Implantate könnten langfristig Plastikkarten komplett ersetzen und damit nachhaltiger und sicherer sein.

11. Februar 2021: Heute lebe ich ein Vierteljahr mit dem Chip. Nicht schlechter, auf jeden Fall mit etwas mehr Komfort. Ich bin überzeugt, dass in zehn, 15 Jahren fast niemand mehr ein Smartphone nutzt. Weil ein Chip diese Funktionen bequemer und vielleicht sogar mit mehr Datensicherheit ermöglicht. Man muss solche Entwicklungen nicht mitmachen, man kann sich bewusst dagegenstellen. Aber wir tun gut daran, uns mit Innovationen und Technologie auseinanderzusetzen und sie wertfrei zu diskutieren und auszuprobieren. Das Für und Wider für die Gesellschaft abzuwägen. Sich individuell dafür oder dagegen zu entscheiden. Ich habe meine Entscheidung für den Chip nicht bereut. Ob ich eines Tages einen erweiterten Chip einsetze oder diesen entferne? Ich denke noch darüber nach.


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