von Ryan Smith, Gastautor für €uro am Sonntag

Haben Sie schon einmal in einem Unternehmen gearbeitet, das Sie angewiesen hat, Beinahe-Unfälle zu melden? Das heißt, Ereignisse, die zu einem Unfall hätten oder fast hätten führen können. Die Begründung ist einfach: Eine offene Berichtskultur und die Untersuchung der Beinahe-Unfälle sollten dazu beitragen, den Ernstfall zu vermeiden, der im Extremfall sowohl tödlich als auch katastrophal enden kann. In den Branchen, in denen Sicherheit von entscheidender Bedeutung ist, ist das Melden der kleinen Vorfälle wichtig.

Etwas anders, aber mit den gleichen Parallelen im Bereich der Sicherheit, präsentiert sich folgender Fall: Eine ­aktuelle Studie untersuchte Whistle­blowing-Daten von US-notierten Unternehmen. Whistleblower-Systeme (also Regelungen, die interne Hinweisgeber vor Strafverfolgung oder beruflichen Sanktionen schützen) sind eine Vorgabe vieler Märkte. In den USA etwa wurde als Reaktion auf verschiedene Finanzskandale wie Enron oder Worldcom im Jahr 2002 der Sarbanes-Oxley Act Gesetz, der Wirtschaftsprüfer oder Buchhalter absichert, wenn sie Bilanztricksereien melden. Diese Systeme sollen eine sichere und anonyme Methode zur Meldung von Problemen sowie eine Alternative zu den traditionellen Melde- und Überwachungsmechanismen bieten, die Unternehmen einsetzen. Und sie sind wichtig, denn Mitarbeiter gelten als Insider als am besten geeignet, unangemessenes Verhalten in einem Unternehmen zu erkennen.

Missstände aufzudecken bedeutet auch, Kosten zu sparen

Was hat die Studie herausgefunden? Kurz gesagt, der Hinweis auf mehr Whistleblower ist eine gute Sache in ­einem Unternehmen. Entgegen der eigenen Intuition bedeuten mehr interne Whistleblower nicht mehr (häufige oder schwerwiegende) Probleme. Vielmehr zeigte sich (zumindest in US-Unternehmen), dass je mehr Mitarbeiter interne Whistleblowing-Hotlines nutzen, desto weniger Klagen haben Unternehmen zu erwarten und desto weniger Geld müssen sie als Ausgleich zahlen. Der Einsatz von Whistleblowing ist eigentlich ein Zeichen für offene und effektive Kommunikationskanäle; die Mitarbeiter glauben, dass ihre Probleme gelöst werden. Umgekehrt ist es unschwer vorstellbar, dass diese Auffassung unter­graben wird, wenn das Management diese Prozesse missbraucht.

Hat die Studie im Hinblick auf die ­Unternehmensführung bestimmte Unternehmensmerkmale identifiziert? Ja. ­Autokratische Führungsteams mit Governance-Protokollen, die Minderheitsaktionäre einschränken, werden diesen Meldesystemen weniger Beachtung schenken. Ebenso wie schnell wachsende Unternehmen (wo andere Studien gezeigt haben, dass Bilanzierungsfehler häufiger vorkommen), was für uns angesichts unseres Fokus wichtig ist.

Ehrliche Unternehmenskultur funktioniert am besten

Denken Sie nicht zuletzt daran, dass dies für Unternehmen in den USA gilt - einer Nation, die Psychologen und Soziologen als von "geringer Machtdistanz" geprägt einstufen würden. Psychogeschwätz? Machtdistanz ist das "Ausmaß, in dem die Unterschicht einer Gesellschaft akzeptiert und erwartet, dass die Macht ungleich verteilt ist". Dies wurde von Land zu Land gemessen, und es wurde festgestellt, dass viele Entwicklungsländer über eine "hohe Machtdistanz" verfügen.

Um die Parallelen zum Sicherheitskonzept voll auszureizen: Die Sicherheitsstatistiken in den Entwicklungsländern sehen oft gut aus. Für bare Münze genommen bedeuten diese Daten: "Hier gibt es nichts festzustellen." Aber Unfälle werden oft nicht gemeldet, weil die Mitarbeiter respektvoller und unterwürfiger gegenüber ihrem Arbeitgeber sind. Taiwan, Indien, Japan und andere Länder benötigen Whistleblowing-­Systeme und -Prozesse wie die USA, aber ich nehme an, dass die Hotlines in diesen Ländern wahrscheinlich nicht viele Anrufe erhalten.

Im Zweifelsfall funktionieren offene und ehrliche Unternehmenskulturen am besten. Wenn Managementteams auf null Whistleblower-Berichte abzielen, übersehen sie den Kernpunkt.

Kurzvita

Ryan Smith
Head of ESG Research bei Kames Capital
Smith hat einen Master of Science in Umweltchemie von der ­Nottingham Trent ­University und ist CFA Charterholder. Er stieß im Oktober 2000 als SRI-Analyst zum ­Unternehmen, seit 2002 hat er seine aktuelle ­Position inne.
Kames Capital ist ein ­Investmentmanager mit Kompetenzen im ­Bereich Fixed Income, Aktien, Immobilien, ­Multi-Asset, Absolute Return und ethische Investitionen, er verwaltet rund 48 Milliarden Euro.






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