Herr Dr. Krämer, die Briten haben es getan und sich tatsächlich für den Brexit entschieden. Wie überrascht sind Sie?
Bis gestern hatten sich die Märkte ordentlich erholt und auf einen Verbleib Großbritanniens in der EU gesetzt. Insofern bin auch ich überrascht, dass sich die britischen EU-Gegner mit einem so deutlichen Vorsprung durchgesetzt haben.
Weltweit sind die Finanzmärkte abgerutscht. Wie schlimm wird es jetzt an den Börsen?
Die Märkte haben heftig reagiert, aber bislang nicht panisch. Das Britische Pfund und die Aktienmärkte leiden natürlich besonders, weil der Markt auf dem falschen Fuß erwischt wurde. Von "disorderly markets" kann bisher aber noch keine Rede sein.
Wird das nur ein kurzer politischer Börsendonner oder kann das heute der Beginn einer neuen Baisse sein?
Der Brexit schafft wie die zurückliegenden Krisen Unsicherheit und ist insofern schlecht für die Wirtschaft. Allerdings stellt ein Brexit bei weitem nicht ein so großes Risiko dar wie etwa die Euro-Staatsschuldenkrise ab 2010 oder gar die Lehman-Pleite 2008. Ein Brexit ist damit nicht vergleichbar. Einige Banken mögen je nach Ausgang der Trennungsverhandlungen London den Rücken kehren, aber ein Brexit bedroht nicht die Stabilität des Finanzsystems.
Welche Folgen wird die Entscheidung für die britische Wirtschaft haben?
Wir erwarten auch für Großbritannien keine Rezession. Das gilt erst recht für den Fall, dass sich allmählich eine saubere Scheidung abzeichnet. Damit meine ich, dass Großbritanniens Wirtschaft nach einem EU-Austritt den Zugang zum EU-Binnenmarkt behält. Großbritannien könnte argumentieren, dass die EU dem Nicht-EU-Land Norwegen dieses Recht gewährt. Großbritannien müsste sich dann aber auch den Regeln des Binnenmarktes inklusive der Arbeitnehmerfreizügigkeit unterwerfen und hätte darüber hinaus Zahlungen an die EU zu leisten.
Welche Auswirkungen erwarten Sie für die Konjunktur in Deutschland? Droht uns jetzt der Rückfall in eine Rezession?
Wir erwarten für den Euroraum keinen Rückfall in die Rezession. Auch die EU hat ein starkes wirtschaftliches Interesse an einer sauberen Scheidung. Schließlich ist Großbritannien zweitgrößter Handelspartner der EU, noch vor China. Die Länder übergreifenden Produktionsketten dürfen nicht durch die Einführung von Zöllen gestört werden.
Der Brexit erschüttert auch die EU in ihren Grundfesten. Fällt jetzt auch die Europäische Union auseinander?
Der Brexit stellt nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein politisches Risiko dar. Das überraschend deutliche Votum der Briten gibt den Anti-EU-Parteien in vielen EU-Ländern Rückenwind. Das trifft die EU in einer sehr schwierigen Phase. Schließlich ist sie hin und her gerissen zwischen mehr und weniger Europa. Die Handlungsunfähigkeit der EU provoziert weiteren Widerstand der Wähler. Der EU sind die Visionen abhandengekommen und die EZB bleibt eingespannt, die ungelösten Probleme der Währungsunion mit einer lockeren Geldpolitik zu übertünchen.