Der Kursverlauf von Wirecard brachte viele Anleger zwischenzeitlich zum Träumen. Von Januar 2017 bis Sommer 2018 verfünffachte sich der Börsenwert. Hin und wieder gab es zwar Einbrüche, aber nach kurzer Zeit hatte sich der Kurs wieder erholt. Auch die Schuldigen für die Kursschwankungen waren schnell gefunden: Die negative Berichterstattung, allen voran der Financial Times, die dem DAX-Aufsteiger den raschen Erfolg missgönnte oder, noch schlimmer, mit Leerverkäufern unter einer Decke steckte. Alles halb so wild, Wirecard ist eine Erfolgsgeschichte, war die Standardantwort des Aschheimer Unternehmens auf Vorwürfe. Bis zuletzt. Bis es nicht mehr anders ging.

Vor zwei Wochen verkündete der Konzern widerwillig, dass er 1,9 Milliarden Euro vermisst. Die Aktie stürzte ab, Konzernchef Markus Braun und Vorstand Jan Marsalek verloren ihre Posten. Wenig später war Wirecard Pleite. Jetzt droht der neue Insolvenzverwalter, Michael Jaffé, mit Zerschlagung. Kurzum: Für investierte Anleger eine Katastrophe.

Gleichzeitig wurden kritische Fragen laut: Wie konnte es so weit kommen? Hätte der Betrug nicht viel früher auffallen müssen? Hätte die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen (BaFin) eingreifen müssen? Und wie kann es sein, dass die Wirtschaftsprüfer von EY allem Anschein nach gefälschte Bilanzen testiert haben?

Diese Fragen stellen sich auch dem langjährigen Euro am Sonntag-Leser Michael Mundenbruch: Es sei schlicht "nicht nachvollziehbar warum Wirtschaftsprüfer EY, der die Bilanzen seit Jahren prüfe, bei verdächtigen 1,9 Milliarden Euro, die auf nur zwei Konten verteilt sind, nicht direkt bei den Banken angerufen habe um deren Existenz zu prüfen", schimpft der Münchner. Mundenbruch fühlt sich geprellt und überlegt sich einer Musterklage gegen EY anzuschließen. Deutschlandweit trommeln bereits mehrere Kanzleien um Mandanten.

Klagemaschinerie gestartet


Die Anwaltskanzlei Tilp etwa hatte bereits Mitte Mai - also vor der Insolvenz von Wirecard - am Landgericht München Klage eingereicht und ein Musterverfahren beantragt. Bis jetzt hätten sich bei ihnen rund 30 000 Anleger (Stand Dienstag) registriert. Die Tübinger verkündeten zudem, ihre Klage gegen die ehemaligen Vorstände von Wirecard und EY erweitern zu wollen: "Wir werden sehr viele Klagen einreichen. Diese Verfahren werden dann aber auf das Musterverfahren ausgesetzt. Das heißt, im Ergebnis kämpfen alle Geschädigten in einem Musterverfahren gemeinsam gegen die von uns verklagten Haftungsgegner", erklärt Andreas Tilp. Die Bundesregierung forderte er auf einen Entschädigungsfonds für Anleger einzurichten und damit Verantwortung für das mögliche Aufsichtsversagen der BaFin zu übernehmen. Auch eine Klage gegen die BaFin will Tilp ausdrücklich nicht ausschließen.

Das Problem für die Kanzleien wie für Anleger: Nach dem Insolvenzantrag von Wirecard ist es nahezu unmöglich auch nur einen Teil des Geldes zurückfordern zu können. Viel zu holen gibt es dort nicht mehr. In der Reihenfolge der Schuldner stehen Anleger zudem ziemlich weit hinten. Selbst die Banken haben ihre Kredite bereits zum großen Teil abgeschrieben. EY ist daher aus Klägersicht eine interessantere Adresse: Jüngst wurden zudem neue Vorwürfe laut, wonach sich die Hinweise verschärfen, dass bereits die Umsätze aus den Jahren 2017 und 2018 massiv aufgehübscht waren. Anlegern seien dadurch wichtige Informationen vorenthalten worden, sagen Kritiker.

Anlegerspezialist Tilp weist darauf hin, dass auch Anleger, die ihre Anteile bereits verkauft haben, sich Hoffnung auf Schadenersatz machen können: Maßgeblich sei, ob man zwischen dem 24. Februar 2016 bis 18. Juni 2020 Aktien, Anleihen oder Derivate von Wirecard besessen hätte. Gleichzeitig mahnt Tilp angesichts der Vielzahl an Beschuldigten zu Geduld: Er rechne frühestens in drei Jahren mit einem ersten Urteil.