Der Zahlungsabwickler Wirecard verstrickt sich immer tiefer im Bilanzierungsskandal. In der Nacht zum Dienstag hat der DAX-Konzern die für 4. Juni angekündigte Bilanzvorlage erneut um zwei Wochen verschoben, weil die Prüfung noch nicht abgeschlossen sei, wie es hieß. Bereits vor zwei Wochen hatte die Anwaltskanzlei Tilp den DAX-Konzern wegen Falschinformation des Kapitalmarkts auf Schadensersatz verklagt. Grund war insbesondere die verzögerte Veröffentlichung einer externen Sonderprüfung der Wirtschaftsprüfung KPMG. Dies hatte Anfang Mai zu einem Kurssturz von 26 Prozent an einem Tag geführt.
Tilp-Anwalt Maximilian Weiss zeigte sich über die erneute Verschiebung wenig überrascht. "Ich kann mir durchaus vorstellen, dass wir demnächst noch einen weitaus größeren Bilanzierungsskandal sehen werden", sagte Weiss gegenüber boerse-online.de. Nachdem die externen Wirtschaftsprüfer von KPMG in ihrer Sonderprüfung die Manipulationsvorwürfe nicht vollständig ausräumen konnten, stünden nun die Wirecard-Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young (EY) massiv unter Druck. "Sie prüfen den 2019er Abschluss nun umso genauer, um nicht als willfährige Steigbügelhalter durchzugehen und am Ende auch noch selbst zu haften", erläutert Weiss.
Wirecard war in Medienberichten wiederholt Manipulation der Jahresabschlüsse und aufgeblähte Umsätze insbesondere bei Auslandstöchtern vorgeworfen worden. Eine im Herbst 2019 vom Aufsichtsrat in Auftrag gegebene Sonderprüfung der Wirtschaftsprüfung KPMG hatte die Vorwürfe nicht vollständig entkräften können. Inzwischen hat auch der britische Hedgefonds TCI bei der Staatsanwaltschaft München Strafanzeige gegen den Vorstand eingereicht. Auch die Finanzaufsicht Bafin geht gegen Wirecard wegen verschiedener Unregelmäßigkeiten vor.
Dabei hatte der neue Wirecard-Aufsichtsratschef Thomas Eichelmann gerade erst damit begonnen, die Unternehmensführung neu aufzustellen und den Einfluss von Wirecard-Chef Markus Braun zu beschneiden. Braun, Unternehmensgründer und mit sieben Prozent größter Einzelaktionär von Wirecard, steht im Zentrum der Kritik. Die deutsche Fondsgesellschaft Deka hat seinen Rücktritt gefordert. "Der Vorstand hat jedes Vertrauen verspielt", erläuterte Deka-Experte Ingo Speich. Die Aktionärsvereinigung DSW wirft dem Unternehmen Intransparenz vor und sieht trotz wiederholter Kritik keine Fortschritte in der verschlossenen Unternehmenspolitik. "Es hat sich im Vergleich zur Situation vor einem Jahr nichts geändert", sagte DSW-Vizepräsidentin Daniela Bergdolt gegenüber boerse-online.de. "Das Unternehmen Wirecard benimmt sich weiterhin so, als wäre es nicht DAX-fähig."
Falls Wirecard den Jahresabschluss 2019 nicht bis Ende Juni vorlegt, droht ein Bußgeld der Bafin. Wirecard hatte die Vorlage des Jahresabschlusses bereits im April verschoben. Deswegen prüft die Deutsche Börse ein Sanktionsverfahren gegen das Unternehmen. Wegen verspäteter Bilanzvorlage droht hier ein Strafe bis zu einer Million Euro. Wirecard hätte den Bericht normalerweise bis spätestens 30. April vorlegen müssen, hatte dies aber zunächst auf 4. Juni verschoben - wegen der noch zu berücksichtigenden Ergebnisse der KPMG-Sonderprüfung. Nach Angaben eines Börsensprechers ist bei wiederholten Verstößen gegen die Publizitätsanforderungen der Deutschen Börse ein Ausschluss des Unternehmens aus dem Prime Standard und damit auch aus dem DAX möglich.
Auch die Aktionäre müssen sich weiter gedulden. Die für 2. Juli angekündigte Hauptversammlung hat Wirecard inzwischen auch auf den 26. August verschoben.