Return - der Investmentkommentar von Björn Drescher
Witwen & Waisen gelten traditionell als besonders schutzbedürftig. Von daher dienten sie in der Nachkriegszeit den so genannten "Witwen- & Waisen-Papieren" als Vorlage, wenn es um die Auswahl risikoarmer Anlageformen für die Ersparnisse entsprechender Personen neben klassischen Festgeldern und Sparbüchern ging. Gesucht waren an Rentenzahlungen erinnernde Erträge in Form stabiler Kupons und Dividenden. Ein Blick auf frühere Empfehlungen mutiert dieser Tage zum Trauer- bis Geisterzug.
Prototypen entsprechend etikettierter Kapitalanlagen waren in früheren Zeiten unter anderem die fünf- und zehnjährigen deutschen Staatsanleihen, aber auch Aktien der Versorger - wie beispielsweise EON oder RWE, die Autobauer - wie Volkswagen - oder auch große angesehene Finanzinstitute wie die Deutsche Bank und die Commerzbank. Der nationale Fokus erklärte sich mit der Vermeidung möglicher Währungsrisiken.
Wem schon bei der Aufzählung entsprechender Investments schwindelig wird, der versteht, warum das gegenüber Witwen und Waisen ohnehin schon angebrachte Mitleid eigentlich jeden Tag größer werden müsste. Während die Anleihen bester Bonität auch bei langen Laufzeiten mittlerweile gegen oder unter Null tendieren, sind die Kurse genannter Unternehmen und Institute heute oft nur noch ein Schatten ihrer selbst und die Dividendenzahlungen entweder in Gefahr oder drohen zumindest beschnitten zu werden. Was soll man da Witwen und Waisen raten, ebenso den so genannten Mündeln, wo der Fall ähnlich gelagert ist?
Vielleicht, dass es nichts nutzt, sich an dieser Stelle das berühmte Beschwerdebuch reichen zu lassen. Die Kapitalmärkte nehmen leider keine Rücksicht auf die Schicksale einzelner oder die ganzer Gruppen. Weder in Form der Notenbanken, die Zinsen bis zur Unkenntlichkeit geschliffen haben, noch in Form der wirtschaftlichen Entwicklungen von Unternehmen, die ihre Geschäftsmodelle den Herausforderungen der Umwelt unzureichend oder falsch angepasst haben.
Statt mit Nestlé und Co, wie teilweise zu beobachten, neue "Witwen- und Waisen-Papiere" zu küren, sollte man der Wirklichkeit ins Auge schauen und für sich erkennen, dass Stabilität und Sicherheit bis auf weiteres im wesentlichen nur noch von drei Dingen ausgehen: von der Liquidität, falls Kursschwankungen regulatorisch oder individuell unakzeptabel erscheinen (immerhin gibt es derzeit auch kaum bis keine Inflation, die am Vermögen nagen kann), von einer denkbar breiten Streuung (beispielsweise über globale Indizes) oder von der Selektion und mit ihr verbundenem Timing in Form professioneller Anlagestrategien. Kombinationen dieser Faktoren sind bei angemessenem Anlagehorizont und entsprechender Risikobereitschaft nicht nur erlaubt, sondern sogar angeraten. In Erinnerungen früherer Zeiten zu schwelgen oder auf ihre Wiederkehr zu warten, erscheint fatal.