Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien am 17.11.2016 in Heftausgabe 46/2016

Erst Brexit, dann Trump. Schon zweimal in diesem Jahr trat das Undenkbare ein. Umfrageinstitute lagen daneben, Schockwellen erschütterten die Finanzmärkte. Die Briten haben mehrheitlich keine Lust mehr auf die EU. Und die US-Amerikaner entschieden sich gegen das Polit-Establishment in Person von Hillary Clinton. Das Resultat in beiden Fällen: heftige Kurseinbrüche, panische Verkäufe, irrationales Handeln.

Wäre die Börse immer rational, würde die Frage bei solchen Punkten lauten, ob sich die Welt morgen nicht mehr weiterdreht oder ob ein Unternehmen, das zum Beispiel einen Großteil seiner Produktpalette in Deutschland vertreibt, morgen plötzlich kein Geld mehr verdienen wird. Die Antwort wäre in beiden Fällen: nein.

Da die Börse aber nicht immer rational ist, fahren Anleger meist gut, wenn sie gar nichts tun. Oder noch besser, wenn sie heftige Kurseinbrüche aufgrund politischer Börsen zum Einstieg nutzen. Denn die von Emotionen und Herdenverhalten getriebenen Kapitalmärkte zeigen ideal auf, warum man sich von der Masse lösen und gerade in Extremphasen antizyklisch, also gegen den Markt, handeln sollte.





Der Traum vom schnellen Geld



Zahlreiche Anleger versuchen sich an der Börse mit dem Ziel, schnell und bequem viel Geld zu verdienen. Dass diese Pläne zumeist jedoch schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind, erleben vor allem Neueinsteiger schmerzhaft am eigenen Leib.

Nicht umsonst heißt es, dass die Masse am Kapitalmarkt kein Geld verdient und es schier unmöglich ist, den Markt (langfristig) zu schlagen. Allerdings gibt es Hilfsmittel, um auszuloten, wie der Markt sich aktuell verhält und was somit in naher Zukunft passieren könnte: Interessante Situationen aus der Börsenpsychologie helfen dabei.



Der Mensch ist ein Herdentier



Bereits während der Anfangszeit der menschlichen Evolution war es üblich, in Gruppen zu leben. Die Frauen hüteten die Höhle, während die Männer zusammen auf die Jagd gingen. Teamfähigkeit war also schon vor über 300 000 Jahren notwendig, um zu überleben. Wenngleich dieses äußerst konservative Familienbild heute immer mehr zu den Akten gelegt wird, so zeigt es uns jedoch, dass sich der Mensch in der Gruppe stets wohler fühlte.

Damals war diese Tatsache überlebenswichtig, und auch heute lässt sich immer wieder beobachten, dass der Einzelne sich vor allem dann wohl fühlt, wenn er den Schutz einer großen gleichgesinnten Gruppe genießt. Ein interessantes Beispiel aus dem alltäglichen Selbstversuch ist das Verhalten an Fußgängerampeln.

Steht dort eine Ansammlung von Menschen und wartet brav, wie es sich gehört, auf grünes Licht, werden neu hinzukommende Passanten höchstwahrscheinlich auch warten. Schließlich will man nicht zu den Gesetzesbrechern gehören, die bei Rot die Straße überqueren.

Umgekehrt gibt es jedoch immer wieder das Phänomen, dass Fußgänger, die zuvor brav gewartet haben, die Straße trotz roter Ampel überqueren, sobald einer aus der Gruppe ausschert und losläuft. Dass der Mensch ein Herdentier ist, gilt also auch heute noch. So haben Forscher der Universität Leeds im Jahr 2012 Untersuchungen dazu angestellt. Laut ihrer Studie folgen bis zu 95 Prozent aller Menschen dem Herdentrieb.

Das Phänomen lässt sich in besonderem Maße an den Kapitalmärkten seit deren Bestehen beobachten. Mittlerweile hat sich eine eigene kleine Branche entwickelt, die regelmäßig das Verhalten unterschiedlicher Investoren auswertet. Dabei messen zahlreiche Institute das sogenannte Sentiment, das die Stimmung der Marktteilnehmer einfangen soll. Dafür werden im regelmäßigen Turnus groß angelegte Umfragen unter Privatanlegern, Journalisten, Anlageberatern und Fondsmanagern durchgeführt. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, im mittlerweile sehr transparenten Kapitalmarkt simpel nachzuvollziehen, wie sich große Investoren positionieren.



Ein Beispiel zeigen die Grafiken unten, die dem Chartverlauf des US-amerikanischen Leitindex S&P500 das sogenannte Long Exposure gegenüberstellt. Das ist der Anteil des Portfolios, der auf steigende Kurse setzt. Bewegt sich die Kurve des Long Exposure im höheren Prozentbereich, so bedeutet dies, dass Aktienfondsmanager in den USA mehrheitlich auf steigende Kurse setzen und zunehmend investiert sind. Im unteren Prozentbereich ist die Mehrheit nicht investiert.









Natürliche Grenzen



In der historischen Betrachtung sind vor allem die Zeitpunkte maßgeblich, in denen das Long Exposure der US-Aktienfondsmanager entweder besonders hoch oder besonders niedrig war. So lassen sich exemplarisch die drei Tiefs im Winter 2014/15, im Herbst 2015 und im Februar 2016 herauslesen. Immer wenn diese ihre Long-Positionierungen auf einen äußerst niedrigen Stand herunterfuhren, ergaben sich im Aktienmarkt attraktive antizyklische Einstiegszeitpunkte. Umgekehrt geht beispielsweise das jüngste Hoch der Aktienpositionen auch mit einem Hoch im Aktienindex S&P500 einher. Solche Wendepunkte sind kein Zufall: Wer soll schließlich noch investieren, wenn bereits alle investiert sind? Und wer soll noch verkaufen, wenn alle ihr Geld schon abgezogen haben?

Unterm Strich lässt sich also konstatieren, dass selbst die Experten sich mit dem Markt bewegen. Die Angst davor, dem Vergleichs-index hinterherzulaufen, veranlasst sie, dem Markt zu folgen wie Schafe ihrer Herde. Wenn diese jedoch lange Zeit in eine bestimmte Richtung gelaufen ist und kaum noch Anleger übrig sind, die ihre Anteile verkaufen oder noch Geld haben, um weiter aufzustocken, können konträre Wendepunkte identifiziert werden. Dies gilt sowohl in Zeiten starker Überhitzung als auch bei extremem Pessimismus.



Rohstoffmärkte - ein offenes Buch



Auch am Rohstoffmarkt zeigt sich, dass ein antizyklischer Einstieg einen Mehrwert bringen kann. Anhand der Positionierung der berühmt berüchtigten Hedgefonds ergeben sich immer wieder attraktive Kaufgelegenheiten. Wöchentlich müssen die Manager dieser Investmentvehikel ihre Positionen in Futures und Optionen melden. Diese auch als Terminkontrakte bezeichneten Finanzderivate können auf unterschiedlichste Basiswerte an der Warenterminbörse in Chicago (Commodity Futures Trading Commission) gehandelt werden. Dem gegenüber stehen die ebenfalls zur Meldung ihrer Positionen verpflichteten Produzenten und Händler, die auch als Marktinsider bezeichnet werden.

Mit zunehmender Aufmerksamkeit werden die sogenannten COT-Daten (Commitment of Traders, zu Deutsch: Engagement der Händler) vom Markt aufgenommen. Dabei kann die gleiche Herangehensweise wie bereits beim Aktien-Exposure der Fondsmanager angewendet werden.

Hedgefonds und Marktinsider legen also offen, ob sie aktuell auf steigende oder fallende Kurse setzen. Diese Haltung kann man angesichts der historischen Betrachtung für die eigenen Handelsentscheidungen nutzen. Während das vermeintliche Smart Money der Hedgefonds den Kursen meist hinterherläuft, agieren die Produzenten und Händler tendenziell konträr. Ihr Handeln taugt somit als Vorbild für eine Trendfolgestrategie für antizyklische Privatanleger.









Praktiker versus Schreibtischtäter



Ein interessantes Beispiel bietet der Januar 2016. Zu diesem Zeitpunkt hatte BÖRSE ONLINE bereits auf die Möglichkeit hingewiesen, dass der Goldpreis wieder anzieht. Ein Großteil der Spekulanten hatte sich aus dem Edelmetall verabschiedet, während die Marktinsider die günstigen Goldkurse nutzten, um sich massiv einzudecken. Kurze Zeit später hatte der Goldpreis die Talsohle durchschritten, die Notierungen zogen wieder an. Nun war es an den Insidern, ihre Gewinne peu à peu zu realisieren, sodass sich das positive Bild in eine zunehmend negativere Meinung verwandelte. Bei den Hedgefonds jedoch verlief es spiegelbildlich umkehrt.

Der Goldpreis erholte sich, und plötzlich kauften Manager Long-Positionen, die zuvor gar nichts mehr von dem gelben Edelmetall wissen wollten. Sich die Haltung unterschiedlicher Lager zu eigen zu machen und die einen trendfolgend, die anderen jedoch konträr zu nutzen, kann gerade bei Rohstoffen spannende Chancen eröffnen. Der analytische Ansatz dahinter ist so simpel wie einleuchtend. Als Analyst am fernen Schreibtisch sollte man sich nicht anmaßen, den Goldmarkt besser einschätzen zu können als große Minenbetreiber und Händler, deren Tagesgeschäft sich um nichts anders dreht. Was bei ganzen Aktienmärkten und Rohstoffen funktioniert, lässt sich durchaus auf einzelne Aktien übertragen. So schrieb William Shakespeare einst: "Ein tiefer Fall führt oft zu höherem Glück." Auch diese Weisheit des englischen Dichters und Dramatikers aus dem frühen 17. Jahrhundert ist keineswegs überholt.





Verräterische Leerverkäufe



Allerdings ist die Stimmung gegenüber Einzelaktien deutlich schwieriger einzufangen als das Sentiment des Gesamtmarkts. Einen wertvollen Hinweis kann aber beispielsweise das sogenannte Short-Interest-Ratio liefern. Diese Kennzahl gibt an, wie viel Prozent aller gehandelten Aktien derzeit in den Händen von Leerverkäufern sind. Das heißt, wie viele Anleger sich Aktien geliehen haben, um sie am Markt zu verkaufen, weil sie davon ausgehen, diese bei fallenden Kursen günstiger zurückkaufen und die Differenz als Gewinn einstreichen zu können.

Ein aktuelles Paradebeispiel ist die Aktie des Rohstoffkonzers K+S (siehe nächste Seite). Seit dem abgewehrten Übernahmeversuch durch den kanadischen Konkurrenten Potash kam eine schlechte Nachricht nach der anderen, weshalb viele Investoren Short-Positionen aufgebaut haben, wohl in der Meinung, die Vergangenheit lasse sich auf die Zukunft fortschreiben.

Nervenstärke ist gefragt



Ob es in diesem Fall klug ist, sich gegen den Markt zu stellen, kann nur die Zukunft abschließend klären. Denn nicht immer führt eine antizyklische Strategie zum Erfolg, und eine grundsätzliche Trotzhaltung kann auch gefährlich sein.

Jedoch in Zeiten, in denen das Herdenverhalten einen Höhepunkt erreicht, kann es durchaus intelligent sein, sich gegen die Masse zu stellen. Dafür ist eine Menge Nervenstärke erforderlich, schließlich ist man gerade am Anfang mit seiner Haltung allein auf weiter Flur. Sich aber in gewissem Maße nicht von Stimmungen, Empfehlungen oder Trends beeinflussen zu lassen, sondern eine eigene Meinung zu bilden, erscheint sinnvoll. Und zwar immer.



K+S-Aktie: Wann kommt der Short Squeeze?



Frust statt Übernahmeprämie, lautet die Devise für die Aktionäre von K+S, seit der kanadische Konkurrent Potash sein Kaufangebot zurückgezogen hat.

Die schlechten Nachrichten häufen sich, immer mehr Investoren setzen auf fallende Kurse. Munition liefert der scheidende Konzernchef Norbert Steiner - er wird im Mai 2017 durch den bisherigen Finanzvorstand Burkhard Lohr abgelöst - den Leerverkäufern zur Genüge. Erst in der vergangenen Woche senkte er die Prognose fürs laufende Jahr erneut. Niedrige Kalipreise, Produktionsprobleme in Deutschland und ein schwaches Salzgeschäft sorgten von Juli bis Oktober für den ersten Quartalsverlust seit dem Jahr 2000.

Weitere Produktionseinschränkungen für den Rest des Jahres seien "nicht ausgeschlossen". Auch bei der Inbetriebnahme einer neuen Mine in Kanada rechnet der Düngemittel- und Salzproduzent nun mit etwas höheren Kosten. Hinzu kommt die rechtliche Unsicherheit wegen der Entsorgung salzhaltiger Abwässer in Hessen und Thüringen.

Doch statt erneut nachzugeben, stieg die K+S-Aktie nach Vorlage der Quartalszahlen. Zwar ist es noch zu früh, von einem Wendepunkt zu sprechen, doch offensichtlich haben erste Leerverkäufer die neuerliche Hiobsbotschaft genutzt, um ihre Positionen glattzustellen.

Ein Blick auf das sogenannte Short-Interest-Ratio zeigt, dass sich fast 30 Prozent aller ausstehenden Aktien in den Händen von Leerverkäufern befinden. Wenn bereits so viele Anleger auf fallende Kurse setzen, erscheint es wenig ratsam, noch auf den Zug aufzuspringen. Denn oft wird vergessen, dass selbst der hartnäckigste Shortseller die geliehenen Aktien irgendwann zurückkaufen muss.

Sobald also die Aktie wieder etwas an Auftrieb gewinnt und die Leerverkäufer nervös werden, decken sie sich am Markt ein. Daraus entsteht dann eine eigenständige Aufwärtsdynamik, die in Fachkreisen auch als Short Squeeze bezeichnet wird. Wann es so weit sein wird, ist kaum zu prognostizieren. Spätestens wenn sich die Nachrichtenlage bessert, dürfte die Aktie mit einem Kurssprung reagieren.



Aktuelle Daten zu den Short-Positionen finden Sie im Internet kostenfrei unter shortsell.nl/short/KS/all/archived.