Wie in Europas Bankindustrie spielt auch bei den Fintechs die Musik hauptsächlich in London. Das könnte sich aber ändern, wenn sich die Briten im Referendum am 23. Juni entscheiden, der Europäischen Union den Rücken zu kehren. "Andere Städte wie Berlin oder Paris würden als europäisches Drehkreuz dann attraktiver erscheinen als London", sagt Taavet Hinrikus, Chef der Firma TransferWise, die Geldtransferdienste über das Internet anbietet. "Wir prüfen derzeit unsere Optionen."
Damit steht TransferWise nicht allein. Im Gegenteil: Zehn von Reuters befragte Fintechs aus London waren sich einig darin, dass ein EU-Austritt ernsthafte Konsequenzen für ihre Geschäfte hätte. Sieben gaben an, eine Verlegung ihres Hauptsitzes zu erwägen. Brexit-Befürworter tun solche Ankündigungen zwar als reine Drohgebärden ab. Aber anders als bei Großbanken wäre für Fintechs ein Umzug viel leichter zu bewältigen.
NERVOSITÄT IN DER BRANCHE
Es herrscht jedenfalls Nervosität unter den Finanz-Startups, die herkömmliche Banken mit neuen Geschäftsmodellen und IT-Angeboten herausfordern wollen. Sie befürchten, dass ein Brexit ihren Zugang zu Kunden in der EU verschlechtern und Technologie-Talente und Geldgeber vertreiben könnte. "Würde Kapital aus Großbritannien fliehen? Würden Investoren abgeschreckt? Dies alles ist unsicher, und das ist gefährlich", sagt Dan Gandesha, Chef des Unternehmens Property Partner, das online Kapital für Immobilienfinanzierungen einsammelt.
Noch ist London das Mekka für Fintechs. Nach Berechnungen der Unternehmensberatung EY erwirtschaftete die Branche vergangenes Jahr in Großbritannien umgerechnet 8,5 Milliarden Euro Umsatz und lag damit vor dem Hightechparadies Kalifornien und der Finanzhochburg New York. Sie zählt im Königreich mehr Beschäftigte als in Singapur, Hongkong, Deutschland und Australien zusammen. Die Firmen profitieren in London von einem doppelten Vorteil: Sie haben dort günstige Regulierungsbedingungen und können zugleich andere europäische Märkte leicht bedienen. Dies hat Finanzminister George Osborne bewusst vorangetrieben.
Auch Londons Bürgermeister Boris Johnson ist die Entwicklung der Fintech-Industrie ein besonderes Anliegen. Dem droht er pikanterweise allerdings nun selbst zu schaden. Denn mittlerweile legt sich Johnson ins Zeug für einen Brexit. Hat er damit Erfolg, würde er womöglich Fintechs aus seiner Stadt jagen. "Ich glaube, es käme zu einem gewissen Abzug von Personal, Büros, Firmensitzen und Geschäften, sollte Großbritannien Europa verlassen", sagt Eileen Burbidge, die als Partnerin für die Wagniskapitalgesellschaft Passion Capital arbeitet und zugleich Fintech-Beauftragte des britischen Finanzministeriums ist.
WOHIN GEHEN?
Die Frage ist: Wohin siedeln die Jungunternehmer um? Im Gespräch sind Dublin, Luxemburg und vor allem Berlin. Dorthin zieht es viele junge Talente, die neben den relativ günstigen Lebenshaltungskosten und Mieten auch das internationale Flair schätzen. Der Fintech-Experte Andre Bajorat, Gründer des Unternehmens Figo, sieht neben der Hauptstadt auch Luxemburg als möglichen Profiteur. Denn im Großherzogtum seien die Rahmenbedingungen besonders gründerfreundlich.
In der Startup-Szene ist Berlin inzwischen deutlich die Nummer eins unter Europas Metropolen. Im Fintech-Geschäft stieg das Berliner Unternehmen Number26 zur ersten paneuropäischen Online-Bank auf, die kein großes Finanzinstitut im Rücken hat. Generell hat die Branche in Deutschland deutlich aufgeholt. Die Firmen sicherten sich 2015 gut 500 Millionen Euro frisches Kapital, das war nicht viel weniger als in Großbritannien.
Doch auch unter deutschen Fintechs gibt es Ängste vor einem Brexit. Number26-Gründer Valentin Stalf fürchtet langfristige Standort-Nachteile für Europa: "Für Internet-Startups, insbesondere Fintechs, ist ein großer Markt mit einheitlichen Regularien wesentlich, um schnell die nötige Größe zu erreichen", erklärt er. "Mit dem Brexit würde dieser Markt mit einem Schlag schrumpfen." In dasselbe Horn bläst die britische Kreditplattform Funding Circle, die im vergangenen Jahr den deutschen Wettbewerber Zencap schluckte: "Ein erfolgreiches vereinigtes Europa ist unerlässlich für eine Plattform wie unsere."
Reuters