von Jörg Billina

Herr Hickel, droht Deutschland eine Rezession?
Das Bruttoinlandsprodukt legt immer noch zu, gleichwohl wachsen die Konjunkturgefahren. Zwar ist die deutsche Wirtschaft sehr gut aufgestellt, der Export verzeichnet jedoch bis auf den Maschinenbau hohe Einbrüche, nicht zuletzt aufgrund der nachlassenden Dynamik in China, auch der Russland-Ukraine-Konflikt belastet. Zudem entwickelt sich der private Konsum schwach, die Binnennachfrage würde sogar noch schwächer ausfallen, wären die Zinsen nicht so niedrig. Das alles stimmt die Unternehmer pessimistisch, sie wissen nicht, ob sie ihre Produkte, auch wenn sie noch so gut sind, künftig auch absetzen werden können. Wegen einer tief greifenden Vertrauenskrise sind die Gewinnerwartungen extrem zurückhaltend.

Berlin wird vom IWF aufgefordert, die Konjunktur anzukurbeln. Bedarf es staatlicher Impulse?
Das würde die Wirtschaft eindeutig stärken. Zudem sind die Investitionen dringend notwendig. Deutschland wurde früher für seine moderne Infrastruktur gelobt. Doch mittlerweile sind Straßen Brücken und Schienen in einem schlechten Zustand. Allein um den Substanzverlust aufzuhalten, wären pro Jahr bis zu acht Milliarden Euro notwendig. Auch Investitionen in Bildung sind sinnvoll und sorgen für Wachstum. Indem Deutschland mehr Geld für Infrastruktur und Bildung ausgibt, hinterlassen wir künftigen Generationen in diesen Bereichen keine Erblasten, sondern wir erhöhen ihre Zukunftschancen.

Der französische Ministerpräsident mahnt Berlin, die öffentlichen Ausgaben zu erhöhen. Würde das wirklich die wirtschaftliche Dynamik in der Eurozone erhöhen?
Ja, zieht in Deutschland das Wachstum an, nehmen auch die Importe aus den Nachbarländern zu, was dort wiederum zu einer Konjunkturbelebung führen kann. Auch würde Deutschland seinen Handelsbilanzüberschuss abbauen.

Kritiker sagen jedoch, die Regierung in Paris will nur von ihrem mangelnden Reformwillen ablenken. Stimmt das?
Frankreich selbst steckt tief in einer Krise und kommt um Reformen nicht herum. Doch das Land möchte Deutschlands Agenda 2010 nicht eins zu eins übernehmen, sondern die dabei gemachten Fehler vermeiden. Insbesondere will man eine Zunahme des Niedriglohnsektors beziehungsweise eine Ausweitung der Schere zwischen Arm und Reich und damit eine Spaltung der Gesellschaft verhindern. Das ist vernünftig.

Die Bundesregierung hält aber am Ziel eines ausgeglichenen Haushalts für 2015 fest. Wird sie damit ihrer Verantwortung für die EU gerecht?
Nein. Der Verweis auf die Schuldenbremse zeugt von makroökonomischer Fantasielosigkeit. Insofern bin ich auch von Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel enttäuscht. Die Wirtschaft gerät ins Stottern, doch er und die Regierungskoalition haben sich zum Nichtstun entschlossen. Dabei ist der Zeitpunkt für ein kreditfinanziertes Konjunkturprogramm günstig. Die Zinsen sind extrem niedrig.

Auf Seite 2: Staatsverschuldung, Geldpolitik und die Frauenquote



Ist es denn grundsätzlich falsch, die Eurostaaten zur Einhaltung von Defizitzielen zu verpflichten?
Nein, sie zwingen die Regierungen zu einer solideren Haushaltspolitik. Doch die Regeln engen auch den Handlungsspielraum ein. In Artikel 115 der alten Fassung des Grundgesetzes hieß es, die Schuldenaufnahme im Ausmaß der Investitionsquote ist volkswirtschaftlich geboten. Diese "goldene Regel" wurde abgeschafft. Dem Bund ist ab 2016 nur noch eine strukturelle Kreditaufnahme von höchsten 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung möglich. Das ist zu wenig, um in Krisenzeiten gegenzusteuern.

Führt eine hohe Staatsverschuldung auf lange Sicht zwangsläufig zu weniger Wachstum?
Nein, es besteht kein zwingender Zusammenhang. Die USA sind hoch verschuldet, doch dies hat sich ökonomisch nicht negativ ausgewirkt.

EU, EZB und IWF haben ihre Kredithilfen an die südeuropäischen Staaten an die Erfüllung von Sparauflagen geknüpft. Wie beurteilen Sie die Ergebnisse?
Das war bislang die falsche Politik, sie hat den Absturz der Wirtschaft vorangetrieben. Die Armut hat in Griechenland weite Teile der Mittelschicht erfasst. Auch ist die Schuldenquote gestiegen. Diese errechnet sich aus Defizit durch Bruttoinlandsprodukt. Hätte man die Wachstumskräfte gestärkt, wäre die Schuldenquote sicherlich niedriger ausfallen.

Griechenland kann sich aber wieder auf dem Kapitalmarkt refinanzieren. Ist das ein Zeichen, dass es dem Land wieder besser geht?
Nein. Der zuletzt ausgewiesene Primärüberschuss ist doch minimal, das Wachstum zu schwach. Die griechische Regierung lügt sich in die Tasche. Eine Verbesserung der realen Situation liegt nicht vor. Die Anleihen werden nur nachgefragt, weil renditehungrige Investoren wissen, dass im Notfall die EZB wieder eingreift.

Kann die EZB für mehr Wachstum sorgen?
Nur wenig. Die EZB hat den Großteil ihres Pulvers verschossen. Jetzt sind die Staaten mit einer expansiven Finanzpolitik gefordert.

Die Große Koalition hat den Mindestlohn eingeführt und die Rente mit 63 eingeführt. Schadet dies dem Standort Deutschland?
Der Mindestlohn stützt den Binnenkonsum. Ob die Rente mit 63 schadet, ist doch sehr zweifelhaft. Viele Unternehmen finden die Regelung gut. Sie schafft die Möglichkeit, überalterte Belegschaftsstrukturen geordnet zu korrigieren. Die Finanzierung der Mütterrente kann jedoch vor allem in Phasen der wirtschaftlichen Krise mit Einnahmeausfällen aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen zur großen Last werden.

Aus der CSU wird auch eine Aufhebung der Frauenquote gefordert, um die Wirtschaft nicht zu belasten.
So einen die Frauen diskriminierenden Unsinn habe ich schon lange nicht mehr gehört. Ohne Zweifel sind Frauen qualifiziert für Aufsichtsratsposten und Führungspositionen. Die Studie möchte ich sehen, die Frauen als Wachstumsbremse ausmacht.

Rudolf Hickel war lange Jahre Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Bremen und von November 2001 bis Oktober 2009 Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft in Bremen. Seit dem Jahr 2010 ist er dort als Forschungsleiter für Wirtschaft und Finanzen tätig. Er ist zudem Mitglied im Aufsichtsrat mehrerer Unternehmen und vertritt dort die Arbeitnehmerinteressen. Hickel macht sich für eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik stark.