BERLIN (dpa-AFX) - Seit einigen Tagen pumpt Russland deutlich weniger Gas nach Deutschland - die Gasversorgungslage blieb auch zum Wochenbeginn laut Bundesnetzagentur "angespannt". Die Debatte um Auswirkungen und Gegenmaßnahmen hält weiter an: Der SPD-Parteivorsitzende Lars Klingbeil appellierte an die Verbraucher, Gas zu sparen. "Jeder, der die Heizung runterdreht und hilft, Energie zu sparen, tut einen großen Dienst, um durch diese Krise zu kommen", sagte Klingbeil am Montag in der Sendung "Frühstart" von RTL/ntv. "Vor uns liegen harte Monate, aber wir werden da solidarisch und geschlossen durchkommen."
Der Energieexperte Udo Sieverding von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen geht von weiter steigenden Gaspreisen aus. Sollte es zu einer weiteren Reduzierung der Gaslieferungen aus Russland oder gar einem Lieferstopp kommen, werde es "einen erheblichen Druck auf die Gaspreise geben", sagte Sieverding. Er hält eine Verdrei- oder gar Vervierfachung der Endkundenpreise gegenüber dem Vorkrisenniveau für möglich. "Es droht, sehr schlimm zu werden."
Der Gaspreis im Großhandel legte am Montag weiter zu. Am niederländischen Handelsplatz TTF kostete im Juli zu lieferndes Erdgas am Nachmittag pro Megawattstunde 127 Euro nach knapp 118 Euro am Freitag. Am Montag vor einer Woche hatte der Preis noch 83,40 Euro betragen. Gestiegene Beschaffungspreise können mit Verzögerung auch bei Haushaltskunden für steigende Preise sorgen.
Die Co-Fraktionsvorsitzende der Linken, Amira Mohamed Ali, kritisierte die Preissteigerungen. "Man müsste dringend eine staatliche Preisaufsicht einführen, soweit es Energie angeht. Das haben andere Länder, auch in Europa, bereits getan", sagte Mohamed Ali auf NDR Info. Zudem müsse es eine Übergewinnsteuer geben, um die Gewinne der Industrie abzuschöpfen. "Es kann nicht sein, dass die Energiepreise eine Black Box sind, und es keine staatlichen Kontrollen gibt, wie diese zustande kommen. Dafür ist dieser Bereich viel zu wichtig."
Der Vorstandschef des Essener Energiekonzerns RWE
Die Energieexpertin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) begrüßte die am Wochenende vorgestellten Gassparpläne der Bundesregierung. Es sei sinnvoll, Gas einzusparen und per Auktionen die Gaseinsparpotenziale der Industrie zu fördern, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. "Je niedriger der Gasverbrauch, desto mehr Gas kann eingespeichert werden und desto geringer die gesamtgesellschaftlichen Kosten."
Kritisch sieht Kemfert die Pläne, verstärkt Kohle- statt Gaskraftwerke zur Stromerzeugung zu nutzen. "Besser als Kohle wären erneuerbare Energien - dafür sollte ein Notfallförderprogramm auf den Weg gebracht werden." Kohlekraftwerke zu reaktivieren, könne nur die allerletzte Option sein. "Gas und Kohle sind teuer, erneuerbare Energien deutlich billiger."
Der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, begrüßte das geplante Hochfahren von Kohlekraftwerken. "Es ist völlig richtig, dass der technisch komplizierte Ausstieg aus dem russischen Gas vorbereitet wird, um möglichen Liefereinschränkungen durch Gazprom
Trotz des geplanten Einsatzes von mehr Kohlekraftwerken zur Senkung des Gasverbrauchs will Bundeswirtschaftsministerium am Kohleausstieg bis 2030 festhalten. "Der Kohleausstieg 2030 wackelt überhaupt nicht. Es ist wichtiger denn je, dass er 2030 über die Bühne geht", sagte ein Sprecher des Ministeriums.
Der FDP-Energieexperte Michael Kruse sieht laut "Handelsblatt" Hürden für längere Laufzeiten von Atomkraftwerken. Die FDP sei "technologieoffen, allerdings gibt es beim Weiterbetrieb der drei Atomkraftwerke große Fragezeichen", sagte der Bundestagsabgeordnete der Zeitung. "Kurzfristig gibt es keine Ersatzbrennelemente am Markt - und Hauptlieferant ist Russland. Wer es ernst meint mit der Abkehr von russischer Energieabhängigkeit, müsste diese Probleme als erstes lösen." Ähnlich äußerte sich auch der Ministeriumssprecher: "Wenn wir weiter auf Atomkraftwerke setzen, wären wir wieder von einem russischen Energieträger abhängig."
Bundeskanzler Olaf Scholz betonte in einem Interview, dass der Atomausstieg lange beschlossen sei. Brennelemente und die nötigen Wartungsintervalle der Anlagen seien genau darauf abgestimmt, sagte Scholz dem "Münchner Merkur". So reichten die Brennstäbe noch bis zum Ende des Jahres. Neue zu besorgen, würde mindestens 12 bis 18 Monate dauern, betonte er./tob/DP/ngu
Quelle: dpa-Afx