BERLIN (dpa-AFX) - Finanzminister Christian Lindner rechnet damit, dass Deutschland angesichts der Energiekrise noch für längere Zeit auf Atomenergie zurückgreifen muss. "Es geht nicht um viele Jahre, aber möglicherweise müssen wir uns mit dem Gedanken anfreunden, auch im Jahr 2024 etwa noch Kernenergie zu brauchen", sagte der FDP-Politiker am Dienstag bei RTL/ntv. Wenn mehr Bürger wegen der hohen Gaspreise wieder mit Strom heizen wollten und sich Heizlüfter kauften, sei nicht nur eine Wärme- sondern auch eine Stromlücke zu befürchten. Auf Braunkohle als Alternative könne Deutschland aus Klimaschutzgründen nicht setzen. Deshalb müsse man den Weiterbetrieb der Kraftwerke vorbehaltlos prüfen.
FDP-Fraktionschef Christian Dürr sieht in einer Laufzeitverlängerung der drei noch verbliebenen Kernkraftwerke auch eine Frage der europäischen Solidarität. "Nicht nur Deutschland steht vor einer schweren Energiekrise, sondern ganz Europa", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Die EU verweise sogar explizit auf Kernenergie als Ausweichtechnologie. "Ich wüsste nicht, wie wir unseren europäischen Partnern erklären sollen, dass wir sichere Energiequellen aus ideologischen Gründen abschalten, während Frankreich mit einem Bein in einer Stromkrise steht."
Dürr sagte weiter: "Wir müssen jederzeit in der Lage sein, Strom an unsere Nachbarn zu exportieren. Die Laufzeitverlängerung der deutschen Kernkraftwerke wäre daher ein wichtiges Zeichen der europäischen Verbundenheit. Wir sollten über den deutschen Tellerrand schauen und Rücksicht auf unsere Partner nehmen."
Der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, Manfred Weber (CSU), sagte "Bild": "Die Bundesregierung muss alle Möglichkeiten der Eigenversorgung mit Energie ausschöpfen. In unseren Nachbarländern gäbe es ansonsten angesichts der drohenden Energiekrise in Europa wenig Verständnis." Deshalb sollten nach Webers Worten die Restlaufzeiten der noch aktiven Meiler verlängert werden. Weber rief die Vertreter der EU-Staaten dazu auf, durch solidarisches Handeln eine Wirtschaftskrise zu verhindern.
Frankreich setzt zur Stromerzeugung anders als Deutschland sehr auf Atomkraft. Rund die Hälfte der französischen Atomkraftwerke war zuletzt aber wegen Defekten oder Wartungen vom Netz, so dass die Meiler weniger Strom als üblich lieferten. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) hatte am Sonntagabend in der ARD-Sendung "Anne Will" darauf verwiesen, dass Deutschland im Moment Strom nach Frankreich exportiere. Dort könnten die Atomkraftwerke nicht mehr arbeiten, weil sie nicht heruntergekühlt werden könnten.
Die FDP als Koalitionspartner der Ampel-Regierung im Bund ist für einen Weiterbetrieb der drei noch verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland über das Jahresende hinaus. Der FDP-Energiepolitiker Michael Kruse brachte in der "Bild" eine Verlängerung bis Frühjahr 2024 ins Spiel. "Das ist der Zeitraum, in dem uns Energieknappheit droht", sagte er. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will zunächst die Ergebnisse eines zweiten Stresstests zur Sicherheit der Stromversorgung abwarten, wie eine Regierungssprecherin sagte.
Das Wirtschaftsministerium hatte diesen Test vor einer Woche angekündigt. Es gehe darum, festzustellen, ob die Versorgungssicherheit im Stromsektor und der sichere Betrieb des Netzes unter verschärften Annahmen gewährleistet seien. Mit Ergebnissen sei "in den nächsten Wochen" zu rechnen. Es gehe nicht darum, deutsche Atomkraftwerke länger laufen zu lassen, um "kaputte" französische Atomkraftwerke zu ersetzen. Ein erster Stresstest von März bis Mai dieses Jahres kam zum Ergebnis, dass die Versorgungssicherheit im kommenden Winter gewährleistet ist.
Der bayerische Grünen-Landtagsfraktionschef Ludwig Hartmann schließt einen Weiterbetrieb der verbliebenen Atomkraftwerke über das Jahresende hinweg nicht aus. "Zentral ist für uns, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Wenn der verschärfte Stresstest ergeben sollte, dass einzelne AKWs im Extremfall zur Aufrechterhaltung der Stromversorgung beziehungsweise Netzstabilität notwendig sind, müssen wir je nach Anlage entsprechend reagieren", sagte Hartmann der "Augsburger Allgemeinen" (Dienstag).
Hartmann sagte, dass in Bayern das Risiko von Versorgungsengpässen im Winter größer sei als in anderen Bundesländern. Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) forderte im Deutschlandfunk sogar die Reaktivierung der bereits abgeschalteten Atomkraftwerke Gundremmingen C, Brokdorf und Grohnde. Sie waren Ende 2021 vom Netz genommen worden./hoe/DP/nas
Quelle: dpa-Afx