Seitdem hat die von der Bundesregierung eilig beschlossene Energiewende mit all ihren negativen Konsequenzen für den Strommarkt vor allem das Geschäftsmodell der deutschen Branchenriesen Eon und RWE ins Wanken gebracht. Versorgeraktien sind für viele Anleger hierzulande seither ein rotes Tuch.
Dabei reicht ein Blick über die deutschen Grenzen, um zu erkennen, dass wieder Schwung in die Energiebranche gekommen ist. Denn während das breite europäische Aktienbarometer Stoxx Europe 600 seit Jahresanfang gerade mal um 3,5 Prozent zugelegt hat, schaffte der Sektorindex Stoxx Europe 600 Utilities, in dem die größten Versorger Europas versammelt sind, ein Plus von knapp elf Prozent. Kurstreiber waren vor allem Energiekonzerne aus Frankreich, Italien, Spanien und Portugal.
Dass es vor allem Unternehmen aus den europäischen Peripherieländern sind, die derzeit hohe Kurszuwächse erzielen, hängt zunächst mit der Entspannung an den dortigen Zinsmärkten zusammen. "Da mittlerweile die Risikoaufschläge für Staatsanleihen in Spanien, Italien und Portugal stark gesunken sind, entspannt sich auch die Lage bei den Energiekonzernen", erklärt Johannes Bühler, Branchenanalyst beim Bankhaus Lampe. Denn vor allem in den südlichen Euroländern spielt die Staatsbeteiligung an den Versorgern eine wesentliche Rolle.
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Energiekonzerne im Wandel
Hinzu kommt, dass viele europäische Versorger von der deutschen Energiewende herzlich wenig betroffen sind. Die französische Electricité de France (EDF) etwa verdient nach wie vor viel Geld mit Atomstrom. Und der portugiesische Konzern Energias de Portugal (EDP) ist schon jetzt ein voll auf regenerative Energien eingestellter Versorger.
Viele andere Unternehmen haben sich einem strikten Restrukturierungskurs verschrieben. Sie treten massiv auf die Kostenbremse und trennen sich von unrentablen Kraftwerken. Im Gegenzug stoßen sie in neue, profitablere Märkte vor, suchen dort ihr Heil. Die spanische Iberdrola beispielsweise begegnet der Schwäche im Heimatmarkt mit umfangreichen Investitionen in Mexiko, Brasilien und den USA.
Daneben erschließen sich zahlreiche Versorger neue Geschäftsfelder und versuchen sich vom reinen Energieanbieter zum Energieserviceunternehmen zu wandeln. Gérard Mestrallet, Chef der französischen GDF Suez, sagt: "In der klassischen Energieerzeugung schließen wir viele Anlagen, aber für das Energieservicegeschäft stellen wir laufend Leute ein und wachsen dort rapide."
Die Versorger setzen ihre Hoffnungen unter anderem auf neue Technologien zur Energieeffizienz. So hat etwa die deutsche RWE verkündet, man werde einen intelligenten Thermostat ins Angebot aufnehmen. Über eine Tochterfirma wollen die Essener in Großbritannien Heizungsregler der Google-Tochter Nest vertreiben. Im Gegenzug erhalten sie einen Teil des Umsatzes. Mit dem "smarten" Thermostat können Anwender zum Beispiel aus der Ferne per Smartphone ihre Heizung steuern und dadurch Kosten senken.
Vieles von dem, was derzeit in der Versorgerbranche angegangen wird, trägt wohl erst in ein paar Jahren Früchte. Doch für Anleger sind die angestoßenen Veränderungen derzeit ein willkommener Grund, ihren Blick erneut auf die europäischen Energieriesen zu richten. Zumal in einem Umfeld, in dem Aktienmärkte nervöser reagieren und bisherige Börsenfavoriten ins Wanken geraten. So haben zum Beispiel in den vergangenen Wochen deutliche Rücksetzer an der US-Technologiebörse Nasdaq die Risikobereitschaft vieler Investoren gedämpft.
Zudem sorgt die Ukraine-Krise für Unsicherheit. All das verstärkt den Trend bei Anlegern, ihr Kapital in defensivere Sektoren umzuschichten. Und hierzu zählt nach wie vor die Versorgerbranche. Hinzu kommt, dass dort viele Unternehmen mit einer attraktiven Dividendenrendite locken: im europäischen Schnitt zwischen 5,0 und 5,5 Prozent. Im anhaltenden Niedrigzinsumfeld ein nicht zu verachtendes Argument. Und schließlich ist die Aktienbewertung bei vielen Versorgern zwar nicht mehr günstig, aber "nach wie vor moderat", so Analyst Bühler.
Anleger könnten also weiter in die Börsennachzügler investieren. Vor allem wenn in diesem Jahr die Konjunktur stärker ins Stottern geraten sollte. Für die Anlagestrategen der Schweizer Privatbank J. Safra Sarasin ist der Wirtschaftszyklus bereits von der Expansions- in die Verlangsamungsphase vorgerückt. Historisch betrachtet hätten in einem solchen Umfeld vor allem die defensiven Sektoren Gesundheit und Versorger überdurchschnittlich profitiert. Auch in schwierigeren Zeiten brauchen die Menschen eben Medikamente - und Strom.
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